Association pour la Promotion de l’Enseignement Plurilingue en Suisse
Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz
Associaziun per la Promoziun da l’Instrucziun Plurilingua en Svizra
Associazione per la Promozione dell’Insegnamento Plurilingue in Svizzera

Gründungstext

Peter Bichsel: Es gibt nur Eine Sprache

(für Klaus Reichert)

 
Meine Damen, meine Herren,

Ich gratuliere Ihnen zu der Gründung Ihrer Arbeitsge-meinschaft, was Sie hier machen, das ist tapfer und selbstlos. Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer sind - mit der Gründung Ihrer Arbeitsgemeinschaft geben Sie zu, dass ein französisch sprechender Chemielehrer ein besserer Französischlehrer ist und eine deutschsprechende Turnlehrerin eine bessere Deutschlehrerin. Sie haben sich heute selbst abgeschafft - mein Kompliment.

Doch Sie wissen, dass es erstens so schlimm nicht werden wird, Arbeitsgemeinschaften werden ja in der Regel nicht gegründet, um erfolgreich zu sein, sondern nur um da zu sein. Das ist nicht Nichts. Da-sein ist schon etwas. Und zweitens würden Sie wohl nur als Fremdsprachenlehrerinnen abgeschafft und nicht als Sprachlehrer, denn Sprache lernen (und lehren) ist etwas Anderes als Fremdsprache lernen.

Fremdsprache ist ein eigenartiger Begriff. Auf der ganzen Welt werden ausschliesslich nur Fremdsprachen gesprochen - ausser bei uns. Wir - wer wir auch immer sind - sprechen eine Sprache, alle anderen sprechen Fremdsprachen.

Der Bartender in New York weiss von unserem Land nicht nur die Sache mit den Kühen, den Bergen und den Uhren, sondern er weiss auch, dass die Schweiz viersprachig ist - nein, nicht drei, sondern vier, er legt Wert darauf- und er fragt mich nach dem Namen der vierten.

Mir ist das jedes Mal peinlich - ich kann zum Beispiel, um für einmal zu untertreiben - kein Romanisch. Und ich lebe nicht in einer viersprachigen Schweiz, sondern in einem Land, in dem meine eigene Sprache eine Fremdsprache ist. Meine Miteidgenossen, Schweizer Touristen, haben meinem Bartender einen Bären aufgebunden. Sie haben ihm erklärt, dass die Schweiz viersprachig ist - dabei ist sie einsprachig wie jede andere Gegend der Welt. Französisch ist auch hier eine Fremdsprache und Deutsch auch. Es liegt ein Stück Arroganz in der Geschichte der Viersprachigkeit, von der wir Bartendern in der ganzen Welt erzählen. Denn wenn die Schweiz viersprachig ist, dann sind es eben wir Schweizer auch. Wir Schweizer sind mitunter überzeugt davon, dass wir die einzigen sind, die Fremdsprachen beherrschen - die Deutschen jedenfalls nicht und die Engländer auch nicht. Wir glauben, sozusagen, dass Viersprachigkeit so etwas wie ein Kollektivbesitz ist - ich Schweizer spreche die vier Sprachen zwar nicht, aber wir Schweizer schon.

Es gibt Menschen, die eine Sprache sprechen, und es gibt Menschen die Fremdsprachen sprechen. Jene, die Fremdsprachen sprechen sind die anderen. Die sind auch ganz anders, die haben viel mehr Temperament, sind oberflächlicher oder tiefgründiger oder haben gar eine slawische Seele oder die Schwermut der Portugiesen. Die Mitte jedenfalls sind wir - bin ich - wer traurig ist, der ist trauriger als ich, wer fröhlich ist, der ist fröhlicher als ich. Fremd (Fremdsprache) kann besser oder schlechter heissen. Gleich kann es nicht heissen. Gleich sind nur wir, bin nur ich.

Meine Damen, meine Herren, ich war kürzlich in Norwegen. Wissen Sie, dass die Norweger nicht wie Norweger aussehen, sondern wie wir? In der Slowakei war ich auch - ein verlorenes, vergessenes Land - auch die Slowaken sehen nicht aus wie Slowaken. Sie haben zwei Beine, zwei Ohren, zwei Augen und eine Stimme, die selbe Stimme wie wir, mit der man sprechen kann. Und wenn sie wütend sind, kann ich das an ihrem Tonfall erkennen, und wenn sie zärtlich sind, auch und auch wenn sie bitten und wenn sie befehlen.

Und wir hätten uns anzugewöhnen, die Auffächerung dieser einen Sprache, die mit Kehlkopf, Zunge und Lippen gebildet wird, als Sprachen zu bezeichnen und nicht als Fremdsprachen.

Dies alles nur zur Begrüssung. Und jetzt versuche ich zu beginnen. Für mich - nur für mich - beginnt Sprache mit der Luther-Übersetzung der Bibel. Die deutsche, die neuhochdeutsche Sprache, hat ihren Ursprung in einer Übersetzung. Sie wäre aus sich selbst heraus nicht entstanden. Sie stammt aus dem Latein der Vulgata so sehr wie aus dem Hebräischen, von dem Melanchton dem Luther eindringlich erzählte, und sie stammt aus dem Mittelhochdeutschen, nicht einfach nur durch etymologische Zufälle, sondern durch den kräftigen Willen Luthers, zu übersetzen.

Also ganz von Anfang an:

"Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser." (1)

Nein, Luther ist das nicht, und trotzdem, es ist die Sprache Luthers, die kräftige Sprache Luthers: Deutsch. Hergestellt aus den Übersetzungsschwierigkeiten - nein, Übersetzungsfreuden - aus dem Hebräischen von Martin Buber und Franz Rosenzweig, 1926. Den Satz "Es gibt nur Eine Sprache" - und "Eine" gross geschrieben wie das "Er" im Sinne von Gott - den Satz habe ich von Franz Rosenzweig, der in seinem Nachwort zu einer Übersetzung von Juda Halevi, dem grossen jüdisch-spanischen Dichter aus dem 12. Jahrhundert, schrieb: "Es gibt nur Eine Sprache. Es gibt keine Spracheigentümlichkeiten der einen, die sich nicht, und sei es in Mundarten, Kinderstuben, Standeseigenheiten, in jeder anderen keimhaft nachweisen Hesse." (2) Buber und Rosenzweig wollten erstens eine Bibel schaffen, in der deutsche Juden auf deutsch Hebräisch lesen und verstehen können, und sie wollten zweitens in die deutsche Sprache und Kultur ein Stück Hebräisch einbringen. Sie wollten - letztlich - dasselbe wie Luther noch einmal, und noch einmal so neu und überraschend wie Luther damals war.

Es gibt nur Eine Sprache, das heisst letztlich auch: Es gibt keine Fremdsprachen. Und es gibt Beispiele genug dafür, dass Fremdsprachenkenntnisse den Rassismus nicht überwinden können. Eichmann zum Beispiel konnte Jiddisch. Und ich hörte kürzlich von einem Schweizer, der mehrere Fremdsprachen spricht, darunter sehr entfernte asiatische Sprachen, und der sich inzwischen der Neonaziszene angeschlossen hat und mit Vehemenz Auschwitzlügen-Pamphlete schreibt. Was er kann, das sind offensichtlich nur Fremdsprachen und nicht andere Sprachen.

Das ist der grosse Vorteil der anderen Sprachen, dass sie übersetzbar sind - immer wieder übersetzbar sind. Keine Sprache der Welt würde überleben ohne die anderen. Sprache ist erst beim Turmbau zu Babel entstanden. Denn Sprache entsteht nur durch Sprachen, und ohne Sprachen gibt es keine Sprache.

Der grosse Nachteil der eigenen Sprache ist ihre Unübersetzbarkeit. Sie ist so letztlich nicht interpretierbar, also letztlich nicht reflektierbar.

Ich fürchte mich selbst vor dem, was mir hier einfällt -also einfacher.

Und ich beginne - jetzt endlich - mit einer Geschichte:

Vor einem grossen Schiff im Hafen von Rotterdam steht ein Schweizer mit einem kleinen Paket in der Hand. Oben an der Reling steht ein Matrose. Und der Schwei¬zer ruft ihm zu: "He Sie, chönteder das Päckli am Kapitän gäh" ("Könnten Sie dieses Paket dem Kapitän geben"). Der Matrose rührt sich nicht. "He", ruft der Schweizer, "chönteder das Päckli am Kapitän gäh" und als der Matrose wieder nicht reagiert, ruft der Schweizer nach langem Nachdenken: "Français - parlez vous français." Keine Reaktion. "Englisch", ruft der Schweizer. Nichts. "Oder italiänisch - Italiano". Der Matrose hängt immer noch still über die Reling. "Spanisch - Spanien - Español", ruft der Schweizer. Und jetzt endlich die Antwort: "Sí, señor, sí señor, habla español." "Also", ruft der Schweizer erleichtert, "chönteder das Päckli am Kapitän gäh."

Ein Witz - aber in diesem Falle meine ich es als Geschichte. Sie endet - das ist der Witz der Witze - zu früh. Denn die Frage der Geschichte - nicht des Witzes - ist, ob das Paket den Kapitän erreicht hat. Ich würde annehmen, ja. Denn wenn die beiden sich auch nicht wirklich verständigen konnten; sie haben mit einem einzigen spanischen Wort "español" sprachlichen Kontakt gefunden. Der Matrose hatte endlich eine Stimme. Der Kontakt war hergestellt. Sie hatten jetzt nur noch eine Sprache zu finden, irgendeine selbstgemachte Sprache, mit der sie das Problem bewältigen. Ich bin sicher, der Kapitän kriegt das Paket.

Ich denke an meinen grossen sprachlichen Schrecken auf dem Bahnhof von Assuan in Ägypten. Ich war mit dem Zug von Kairo nach Assuan gefahren, ein wunderbarer Luxuszug mit Schlafwagen. Mein Nachbar im Schlafwagenabteil war ein Feuerwehrmann aus Kairo - ein Feuerwehroffizier. Er fuhr für drei Tage zu einem Kongress über Brandbekämpfung in Assuan. Er sah nicht aus wie ein Offizier, ein sehr einfacher, freundlicher Mann. Ich erzählte ihm, ich sei Schriftsteller. Er selbst hatte einen Stapel von arabischen Büchern mit sich. Er lese nur religiöse Bücher, aber er lese viel, erklärte er mir. Kurz vor Assuan verabschiedeten wir uns. Wir waren gern miteinander gefahren. Die Verabschiedung war schwierig und umständlich. Nun stand ich also im Bahnhof von Assuan - alleingelassen mit meinem Schrecken, der Schrecken darüber, verstanden zu haben (der Schrecken von Moses, Gott verstanden zu haben - Gott, den unverständlichen), denn erst jetzt auf dem Bahnsteig fiel mir ein, dass ich nur ein Wort in Arabisch kenne - schukran - dankeschön - und dass er kein Wort englisch konnte. Aber ich war ganz sicher, dass er zu einem Feuerwehrkongress nach Assuan fuhr, und einer seiner Söhne war Arzt. Nur hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie wir uns das mitgeteilt hatten. Ich erinnere mich an keine Gesten, ich erinnere mich an keine Laute. Das einzige, was ich wusste, ist, dass ich es wusste. So mag es Mose ergangen sein, als er mit den Gebotstafeln im Tal ankam. Vielleicht hat er sie deshalb in seinem Schrecken zerschlagen.

Ich weiss nicht, wie wir uns verständigten. Das einzige, was ich weiss, ist, dass sich Sprache eingestellt hatte. Sprachen stellen sich ein. Zwei Menschen von irgendwo her, die sich irgendwo, zum Beispiel in einer Notsituation - Verliebtheit zum Beispiel - treffen, werden sich verstehen, weil sich Sprache einstellen wird - das Rosen-zweigsche "Es gibt nur Eine Sprache".

Eine andere Geschichte, eine wahre. Ich hatte das grosse Glück, den grossen Strukturalisten Roman Jakobson zu treffen. Wir blödelten eine ganze Nacht zusammen, und eine anwesende Germanistin hatte mit ihm Ernsthaftes im Sinn und ihren Ärger mit uns. Roman Jakobson wusste nicht, wieviele Sprachen er konnte, und es ging die Legende um, dass er alle kann. Ich wollte wissen, welches seine Muttersprache sei. Er wusste es nicht. Ich fragte ihn, in welcher Sprache er einen zähnefletschenden Hund beruhige. Er wusste es nicht. Und auf meine Frage, wieviele Sprachen er denn eigentlich - schätzungsweise - könne, sagte er: "Perfekt nur eine, die indogermanische." Ich hielt auch das immer für eine witzige Bemerkung bis ich auf das Zitat von Rosenzweig stiess: Es gibt nur Eine Sprache. So muss das Jakobson gemeint haben als er sagte: "Eigentlich kann ich nur eine."

Auf die Frage: "Wie lernt man Sprachen", auf die Fragen: "In welcher Sprache träumen Sie", "In welcher Sprache denken Sie", wusste er keine Antwort. Ich glaube, inzwischen kenne ich die Antwort: Eben in der Einen Sprache, in der Sprache der Menschen, die mit Kehlkopf, Zunge und Lippen hergestellt wird.

Denn daran erinnere ich mich. Wir haben gesprochen miteinander, der Feuerwehrmann und ich - mit Lippen und Zungen und Kehlkopf. Es hatte sich Sprache eingestellt. Und diesmal nicht einmal aus Not, nur aus Freundlichkeit. Diese Sprache hat auch einen Namen: Es ist die Sprache der Menschen.

Den Erfindern von künstlichen Weltsprachen - Esperanto zum Beispiel - muss das unbekannt gewesen sein, dass es nur Eine Sprache gibt.

Es gibt inzwischen eine Sprache, die wir Weltsprache nennen. Und wir bezeichnen diese Sprache als Englisch, zwar fälschlicherweise, aber die Angelsachsen, vor allem die Amerikaner, sind grosszügig genug, gegen diese Bezeichnung - Englisch - nicht Einspruch zu erheben. Ich kann sie einigermassen. Mein Sohn kann sie perfekt - ohne je in England oder Amerika gewesen zu sein, ohne je Unterricht oder Selbstunterricht genommen zu haben.

Die Sprache hat sich bei ihm eingestellt - nicht etwa das Englische oder das Amerikanische - sondern "nur" die Weltsprache, die nicht nur zufälligerweise auch Englisch heisst. Diese Weltsprache Englisch ist eine total brauchbare Sprache, brauchbar auch für Persönliches und Intimes und Poetisches. Sie orientiert sich übrigens immer wieder am Original und führt auch nach und nach auf das Original, das Englische, zu. Es gibt auch Leute - Hotelangestellte zum Beispiel - die beide Sprachen beherrschen, das Weltenglisch und das nationale Englisch, die also mit dem Amerikaner und mit mir nicht in genau derselben Sprache sprechen.

Wenn ein junger Norweger, ein junger Portugiese, ein junger Tscheche und ein junger Amerikaner zusammen sind, dann werden sie sich in dieser Sprache unterhalten - und der einzige, der sie vorerst zu lernen hat, wird der Amerikaner sein. Er wird es leicht haben - etwa so leicht wie einem Alemannen das Neuhochdeutsche fällt - denn die Weltsprache des Portugiesen ist abgeleitet von der Muttersprache des Amerikaners. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch das Pidgin-English, eine Behelfssprache aus dem 17./18. Jahrhundert mit einem minimalen englischen Wortschatz und chinesischer Lautung, Wort-bildung und Syntax. Für einen Engländer war es wohl wesentlich schwerer, sie zu lernen als für einen Chinesen. Also schon damals eine grosszügige Leistung der Engländer, wenn auch nicht eine uneigennützige, sie wollten Handel treiben. Aber selbst die sprachprüden noblen Engländer zogen Verständigung der Reinerhaltung der Sprache vor.

Die Klage der Franzosen darüber, dass das Französische als Weltsprache verschwunden ist, ist verständlich und berechtigt. Vielleicht wäre Französisch als Weltsprache sogar geeigneter gewesen. Französisch hatte aber einen gravierenden Nachteil: Die Franzosen waren nicht bereit, ihre Sprache dafür zur Verfügung, zur freien Verfügung zu stellen, sie dafür freizugeben. Den Richtern des französischen Verfassungsgerichts sei jedenfalls herzlich gedankt dafür, dass sie der endgültigen Beseitigung, nämlich Isolierung, der französischen Sprache Einhalt geboten und das sprachrassistische Gesetz wieder einzogen - denn Sprache kommt von Sprachen, und ohne Sprachen gibt es keine Sprache.

In der multilingualen Schule jedenfalls - davon bin ich überzeugt - haben Sprachreiniger nichts zu suchen. Mir jedenfalls könnte es gefallen, wenn man sie EIN-sprachige Schulen nennen würde. ("EIN" gross geschrieben)

Vor zwei Monaten war ich als Gast in einem bilingualen Gymnasium in Poprad in der Slowakei. Der Unterricht findet dort in Deutsch und Slowakisch statt, und das Deutsch der Schüler war deutsch, dasselbe Deutsch wie meines. Poprad liegt in der kleinen Tatra, aus unserer Sicht also irgendwo. Ich war begeistert. Irgendwo wird ohne jeden Grund Deutsch gelernt. Wenn das nur wahr wäre. Ich möchte, dass das wahr ist - oder irgend einmal wahr wird, denn vorläufig verhält sich das noch ein bisschen verkrampfter. In jener Gegend gab es vor dem Krieg grosse deutsche Sprachminderheiten, die Karpatendeutschen. Ihre Geschichte ist wie alle Geschichte nicht nur sauber. Und die Schule wird inzwischen finanziert von der Bundesrepublik - wie auch immer, das sei deutlich gesagt, Schulen finanzieren ist etwas Gutes -nur, deutsche Schulen sind eben auch gute Schulen, und selbst in der armen Slowakei gibt es Ärmere und Reichere. Und die bilinguale Schule ist nicht die Schule der mausarmen deutschen Sprachminderheit, die es auch kaum mehr gibt, sondern die Schule jener, die in eine gute Schule gehen und sie auch bezahlen können. Sie machen dort das deutsche Abitur. Letztlich sind sie in einer guten Schule und nehmen das Deutsch in Kauf. Das ist kompliziert, ich weiss es, und ich lasse es so hier stehen.

Ich meine nur, es sind die Hintergedanken, die die Gedanken desavouieren. Wenn Ihre Idee einer multilingualen Schule nicht mehr ist als ein neuer Trick, die beschämende Sprachsituation der Schweiz ein bisschen zu reparieren, dann kann man sie auch gleich lassen.

Wir brauchen keine neuen Tricks mehr, endlich dem Volk Deutsch und Italienisch und Französisch beizubringen. Wir haben doch genug Erfahrung darin, dass die vielen alten Tricks auch nicht geholfen haben.

In der Beiz sitzen zwanzig, dreissig junge Leute - sie sind oft hier. Sie haben ein einziges Thema - Autos - und sie haben wunderschöne, aufgetakelte Freundinnen. Man nennt sie abschätzig Italos und meint damit Zweitgene-rations-Italienerinnen und -Italiener. Sie lieben es, hier Italienisch zu sprechen. Eigentlich ist es ihre Sprache nicht. Es ist die Sprache ihrer Eltern. Eine zweite Sprache haben sie hier auf der Strasse gelernt, und die Strasse hier ist deutsch. Aber sie beherrschen die Sprache ihrer Eltern perfekt, und sie fallen, ohne dass sie es merken immer wieder in die andere Sprache, das Schweizerdeutsche. Eigenartig ist nur, dass die meisten der hier Sitzenden wohl in unserer Schule gescheitert sind. Dass ihre Ein-Sprachigkeit ("Ein" gross geschrieben) kein Vorteil war in der Schule, in der sie waren. Dass es in der Schweizer Schule kein Vorteil für sie war, zwei schweizerische Landessprachen perfekt zu beherrschen.

Ich frage mich ernsthaft, ob ihre Einsprachigkeit denn ein Vorteil für sie wäre in der multilingualen Schule. Ich möchte gern, dass Sie die Frage beantworten. Aber ich beantworte sie selbst:

Leider nein. Denn was auch immer geschieht mit Schule, wie gut sie auch immer ist und werden wird, die Gesellschaft wird von ihr nie Bildung wollen, sondern nur Selektion und Auszeichnung und im besten Falle Ausbildung - und diese (Entschuldigung) "Italos" gehören ausselektioniert. Diese Vorstellung der Gesellschaft setzt sich durch, ohne dass die Schule dagegen etwas tun kann. Abgesehen davon, dass die Schule hilflos wird, wenn die Schüler etwas bereits können. Sie lebt davon, dass das Lernen mühsam ist. Wäre Sprachenlernen keine Mühe, dann hätte Sprachenlernen in der Schule gar nichts zu suchen. Denn in der Schule hat man das Arbeiten zu lernen und nicht die Sache.

Aber noch mal zurück zu diesen Zweit- und Drittgene-rations-Italienerinnen. Sie sprechen die Sprache ihrer Eltern perfekt, aber Italienisch ist nicht ihre Muttersprache, ist nicht ihre Sprache. Mit ihrem Deutsch verhält es sich gleich. Sie sind nicht zweisprachig aufgewachsen, wie das vielen anderen Einzelnen auch geschieht - eine englische Mutter, ein französischer Vater, der mit seiner Familie in Spanien lebt - sondern diese (noch einmal Entschuldigung) Italos sprechen die Sprache "Italienisch und Deutsch". Das ist ihre Sprache geworden. Ihre Sprachsituation ist eine gemeinsame - noch viele Gleichaltrige leben hier in dieser Sprache. Sie können sich in dieser Sprache gemeinsam unterhalten. Der dauernde Sprachwechsel amüsiert sie, ist Rollenspiel. Im übrigen, sie sind viel eher Svizzeros als Italos. Denn unsere Gegend hat die Voraussetzung für Ihre Ein-sprachigkeit geschaffen. Die Sprache "Svizzero", die nicht eine Mischsprache ist, sondern eine Doppelsprache, hat sich für sie als gemeinsame Sprache eingestellt.

Sprachen lernen ist ein Unsinn, denn Sprache muss sich einstellen. Sie stellt sich ein durch Notwendigkeit - ich will mit meinem ägyptischen Feuerwehrmann freundlich sein - oder sie stellt sich ein, weil ich das will, dringend will und weil ich mich dringend darum bemühe. Sprache kann nicht gemacht und sie kann nicht verordnet werden, sie muss sich einstellen. Die multilinguale Ein-sprachige Schule ("Ein" bitte gross geschrieben) wäre eine Chance, aber sie müsste mehr überwinden als nur heutige Gepflogenheiten des Fremdsprachenunterrichts. Die Problemstellung ihrer Arbeitsgemeinschaft ist ein in Frage stellen der Schule -als Leistungs- und Selektionsschule - an und für sich. Die Svizzeros sprechen nur eine Sprache, ihre zweisprachige und eine Sprache. Eine dritte wäre für sie kein Problem und eine vierte auch nicht. Aber - noch einmal - sie sind in unserer Schule gescheitert, und - noch einmal - ich stelle Ihnen die Frage, ob sie die Absicht haben, sie in Ihrer Schule nicht scheitern zu lassen, denn Ihre Schule wäre nach meiner Vorstellung eine Ein-sprachige Schule, und ich wäre jedenfalls glücklich, wenn Schweizer Touristen meinem Barkeeper in New York dereinst mal beibringen würden, dass die Schweiz ein Ein-sprachiges Land ist, und wenn mich dann der Barkeeper nicht nach dem Namen der vierten Sprache fragen würde, sondern nach dem eigenartigen Umstand, dass in der Schweiz EIN-sprachig gross geschrieben wird.

Oder dann die Geschichte - auch eine schweizerische, denn die Schweiz ist längst nicht mehr viersprachig, hier wird auch Türkisch gesprochen und Spanisch und Galizisch und Serbokroatisch, auch wenn diese Sprache nicht mehr so heissen will - die Geschichte also, die mir kürzlich ein Freund erzählt hat:

Sein Schwiegervater ist Spanier und er arbeitet als Maurer in der Schweiz. Er ist sehr stolz darauf, dass er Italienisch kann, nämlich perfekt, weil auf dem Bau auch viele Italiener sind. So geht denn der Schwiegervater auch gern mit in die Ferien nach Italien. Dort setzt er sich stolz ins Restaurant und bestellt auf italienisch. Dann kriegt er eine grosse Wut auf ganz Italien, weil die italienischen Kellner kein Italienisch verstehen. Seinen italienischen Kollegen auf dem Bau wird es in Spanien genauso gehen, und dem Schweizer Maurer in beiden Ländern wohl auch. Was er gelernt hat auf dem Bau war durchaus perfektes Italienisch, das perfekte Italienisch des Baus. Es hatte sich dort zwischen Italienern und Spaniern Sprache eingestellt. Das ist nicht für nichts, das dient der Kommunikation. Und das ist wirklich Italienisch, eine Form des Italienischen, die im übrigen keine schlechte Voraussetzung dafür wäre, das zentrale Italienisch zu lernen. Was für ein Italienisch er auch kann - er kann ganz sicher ein besseres als ich.

In dem Brief der Schüler der Scuola di Barbiana an ihre ehemalige Lehrerin steht folgendes dazu:

"Übrigens müsste man sich erst einigen, was man unter korrekter Sprache versteht. Die Sprachen werden von den Armen geschaffen, die sie dann immer wieder weiterbilden und erneuern. Die Reichen hingegen legen sie fest, um jene verspotten zu können, die nicht so sprechen wie sie. Oder um sie durchfallen zu lassen.

Ihr sagt, dass Pierino, der Sohn des Doktors gutschreibt. Klar, er spricht wie Ihr. Er gehört gewissermassen zur ' Firma. Die Sprache aber, die Gianni spricht und schreibt, ist jene seines Vaters. Als Gianni klein war, nannte er das Radio "lalla". Und der Vater meinte, ernsthaft: "Man sagt nicht "lalla", man sagt der "aradio".

Nun mag es gut sein, dass Gianni auch lernt, Radio zu sagen. Eure Sprache könnte ihm nützlich sein. Aber inzwischen könnt ihr ihn nicht aus der Schule vertreiben. "Alle Bürger sind gleich, ohne Unterschied der Sprache" So hat es die italienische Verfassung bestimmt, und dabei an ihn gedacht." (3)

Und selbst der Begriff Muttersprache / Vatersprache hat seine Fraglichkeit. Meine Enkelin in Zürich, Tochter einer Mutter aus Solothurn und eines Vaters aus Basel spricht fast von Anfang an die Sprache der Gegend: Zürichdeutsch. Das ist für niemanden beleidigend und das ist selbstverständlich: Sprache wird nicht übertragen, sie stellt sich ein. Auch Mundartpflege - die schöne, gute, alte Mundart - hat rassistische Merkmale. Sprachveränderungen sind Sprachbereicherungen und nicht Sprach Verarmungen. Es hat seine Gründe, dass wir in unseren schweizerdeutschen Mundarten mehr und mehr die neuhochdeutschen Wörter - ins alemannische umgelautet - vorziehen. Wir leben schon länger etwas neuhochdeutscher, und meine 5jährige Enkelin spricht ein wunderbares Hochdeutsch, stellt ihren Kehlkopf dabei etwas anders und hat ihren Riesenspass an der perfekten Imitation. Dazu ist sie von niemandem angeleitet worden, sie hat es nur am Fernsehen gehört, es hat sie amüsiert, sie fand es komisch und lustig. Ihr Lehrer in der Schule wird das dann wohl nicht akzeptieren, schade.

Denn Rollenspiel gilt bei uns als unanständig, als äffig. Das mag mit ein Grund sein, dass den Deutschschweizern Sprache an und für sich - nämlich auch die eigene -schwer fällt. Sprache ist immer Nachahmung, ist Rollenspiel. Sprache ist witzig und gewitzt. Sollte das der Schweizer in Rotterdam gewusst haben - aber eben, er war ein Deutschschweizer - sollte er es trotzdem gewusst haben, der Kapitän wäre zu seinem Paket gekommen. In Norwegen war ich an einer Buchmesse. Es gab dort abends eine Lesung eines irakischen Poeten, der zu meiner Überraschung seine Lyrik nicht pathetisch, sondern ganz pragmatisch vortrug und mich damit überzeugte, dass seine Sprache eine Sprache ist. Im Publikum verstand wohl niemand irakisch. Trotzdem unterstrich der Poet seine Lyrik mit grossen, erklärenden Gesten. Sein Übersetzer trug die norwegische Übersetzung vor. Ich verstand beides nicht, und das gab mir ein Erlebnis, das den Norwegern verschlossen blieb, das wunderbare Erlebnis von zwei Sprachen im Dialog. Nicht zwei Fremdsprachen, sondern zwei Eigensprachen, und als solche waren sie mir nicht mehr fremd und auch nicht mehr sehr verschieden. Es gibt nur Eine Sprache.

Das hätte man mir zur rechten Zeit beibringen sollen oder ich hätte zur rechten Zeit selbst darauf kommen sollen. Schon nur der Hinweis, dass Sprachen einfach sind, und dass jede Sprache nichts anderes ist als eine Form der menschlichen Sprache, nicht etwas Fremdes, sondern etwas sehr eigenes, das Menschliche. Ich habe Norwegisch und Irakisch als zwei Formen der einen Sprache erlebt. Verstanden habe ich wirklich nichts, aber ich habe gerade deshalb verstanden, dass hier zwei Menschen sprechen - annähernd dasselbe in zwei Formen.

Ich weiss, ich bin ein Schwärmer, und ich weiss, dass das, was ich mir wünschte, auch die mehrsprachige Schule nicht wird leisten können - aus dem einzigen Grund, weil sie sich in irgendeiner Form als nützlich darzustellen hat - etwa so wie die Schule in Poprad in Slowakien für Söhne und Töchter aus dem mittleren und höheren Management ihre Nützlichkeit hat.

Ich meine das nicht als Miesmacherei. Ein Anfang ist immerhin ein Anfang. Und immerhin heisst Ihr Projekt nicht "fremdsprachiger Unterricht" sondern "mehrsprachiger". Denn ich bin eigentlich fast sicher, dass die Kenntnisse von Fremdsprachen nationale Schranken nicht abbauen können - es gibt Rassisten, die mehrsprachig sind. Etwas anderes aber, davon bin ich überzeugt, kann Rassismus wirklich abbauen, die Bildung, die Lust an der Bildung.

Übrigens, das Wort "mies" - ein durch und durch deutsches Wort - (Miesmacherei), so sagt mir mein Duden, kommt aus dem Hebräischen. Das erinnert mich an Rosenzweig. Die Sprachen müssen früher einmal viel näher zusammengelebt haben - damals als die Menschen noch nicht so nahe zusammen wohnten. Wörter haben eine Herkunft. Das sollte Sprachreinigern zu denken eben, aber sie haben ohnehin nicht Sprache im Sinn, sondern Nationalismus. Und ich erinnere mich an jenen koptischen Wissenschaftler, den ich damals in Kairo traf. Er lebte mit Schreibverbot, mit Existenzverbot sozusagen. Er hatte das erste grosse Standardwerk geschrieben über die Etymologie der arabischen Sprache. Man hatte ihn dafür eingesperrt, man hatte ihn dafür gefoltert, denn, so sagten seine Gegner, die arabische Sprache hat keine Herkunft, sie kommt von Gott. So jedenfalls möchte ich das grossgeschriebene "Eine", es gibt nur Eine Sprache, nicht verstanden haben. Die Sprache kommt von den Menschen und sie verändert und bereichert sich durch Gebrauch, durch bewussten Gebrauch - als Beispiel die Sprachbemühungen der Feministinnen, die mir einleuchten - und durch fahrlässigen Gebrauch auch.

Gebt die Sprachen endlich frei zum Gebrauch, holt dieses verfluchte Sonntagsgeschirr aus den Schränken und lasst uns darauf tafeln - ohne Furcht, dass es dabei zu Brüchen gehen könnte. "Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen", hat Jean Paul 1807 in seiner Erziehlehre, der "Levana", geschrieben. Er - der Vielsprachige und Sprachgewandte - hat damit nicht etwa nur die deutsche Sprache gemeint - sondern Sprache an und für sich. Darf ich es wiederholen: "Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen." (4)

Das meinte ich zu Beginn: Bis jetzt waren Sie Fremdsprachenlehrerinnen, in der neuen Schule könnten Sie Sprachlehrer werden, denn, zum dritten Mal, Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen. Und es gibt nur Eine Sprache. Und wenn mich nun die fleissigen und die faulen unter Ihnen fragen würden, welche Sprachen sie dafür zu beherrschen hätten, dann ist die Antwort: Nur eine, nur die Eine. Und sollte Ihnen das zu wenig sein - Jakobson lässt grüssen.

Darf ich enden mit einer Bemerkung in eigener Sache. Es ist mir heute zum ersten Mal gelungen, über das Thema Sprache nachzudenken, ohne dabei dauernd über meine mangelnden Fremdsprachenkenntnisse zu lamentieren. Dafür bin ich mir dankbar, und ich danke auch meinem Freund Klaus Reichert, dem ich diesen Vortrag widmen möchte, denn er hat mir mit seiner kleinen Schrift über Rosenzweig und Buber "Zeit ist's" die Augen geöffnet für etwas ganz Einfaches, dass Sprache Sprache ist und nicht Fremdsprache.

Als ich vor 15 Jahren vor einem ähnlichen Kreis über meine "Erfahrungen beim Fremdsprachen lernen" (5) sprach, gefiel ich mir noch in einem grossen Lamento.

Trotzdem - lassen sie mich meinen Vortrag mit dem gleichen Lamento schliessen wie damals. Ich zitiere mich selbst und lese Ihnen den Schluss meiner Geschichte "Hugo" (6) vor:

"... doch seine Geschichte ist eine andere. Habe ich Ihnen schon erzählt, wie still und leise man mit ihm trinken konnte? Und ich will Ihnen auch nicht verschweigen, dass aus ihm selbstverständlich etwas geworden ist Denn das ist eine Geschichte, und in Geschichten wird man etwas.

Er könnte zum Beispiel nach seiner Lehre - vier Jahre -die Matura nachgeholt haben, in einem katholischen Internat, er könnte eine Leidenschaft für die uralten Bücher in Pergament entwickelt und dabei an seine Tante gedacht haben, die blinde. Er könnte Fussball-schiedsrichter geworden sein, ein Spiel zwischen Real Madrid und dem Hamburger Sportverein geleitet haben, für ein umstrittenes Tor in die Schlagzeilen gekommen sein, oder er könnte nach seiner Lehre nichts anderes mehr getan haben als Fremdsprachen gelernt, Albanisch und Kurdisch und Aramäisch, Haussa und Altslawisch, Gälisch und Katalanisch - Französisch nicht.

Doch seine Geschichte ist das nicht Es ist meine Geschichte, ich habe ihn überlebt, und ich sitze jetzt allein in der Kneipe und vermisse in der Stille und im Lärm seine Stille.

Was aus ihm geworden ist? Ein toter Mann, und ich stand an seinem Grab und dachte mir, da unten liegt es, sein Albanisch und sein Gälisch.

Da unten liegt sie, seine Stille, und vermodert."

Rede gehalten von Dr. h.c. Peter Bichsel anlässlich der Gründung der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz.

Bibliographie

  1. "Die Schrift" verdeutscht von Martin Buber, gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1992
  2. Klaus Reichert, "Zeit ist's. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext." Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1993, S.12
  3. "Scuola di Barbiana. Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin." Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1970, S.34
  4. Jean Paul, "Levana oder Erziehlehre" in J.P. Sämtliche Werke, Bd. 1/5, München: Carl Hanser Verlag, 1987 (ich verzichte auf eine Seitenangabe, weil ich Leser suche - unter Lehrern auch - für die ganze Levana von Jean Paul)
  5. "Didaktik und Methodik des Französischunterrichts vom 475. Schuljahr an", Bern: Informationsbulletin EDK 24/1980, S. 77-89 und Peter Bichsel, "Schul-meistereien", Hamburg: Sammlung Luchterhand, 1987, S.52ff.
  6. Peter Bichsel, "Zur Stadt Paris", Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1993, S.82f.

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Testo di fondazione

Peter Bichsel: Es gibt nur Eine Sprache

(für Klaus Reichert)

Meine Damen, meine Herren,

Ich gratuliere Ihnen zu der Gründung Ihrer Arbeitsge-meinschaft, was Sie hier machen, das ist tapfer und selbstlos. Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer sind - mit der Gründung Ihrer Arbeitsgemeinschaft geben Sie zu, dass ein französisch sprechender Chemielehrer ein besserer Französischlehrer ist und eine deutschsprechende Turnlehrerin eine bessere Deutschlehrerin. Sie haben sich heute selbst abgeschafft - mein Kompliment.

Doch Sie wissen, dass es erstens so schlimm nicht werden wird, Arbeitsgemeinschaften werden ja in der Regel nicht gegründet, um erfolgreich zu sein, sondern nur um da zu sein. Das ist nicht Nichts. Da-sein ist schon etwas. Und zweitens würden Sie wohl nur als Fremdsprachenlehrerinnen abgeschafft und nicht als Sprachlehrer, denn Sprache lernen (und lehren) ist etwas Anderes als Fremdsprache lernen.

Fremdsprache ist ein eigenartiger Begriff. Auf der ganzen Welt werden ausschliesslich nur Fremdsprachen gesprochen - ausser bei uns. Wir - wer wir auch immer sind - sprechen eine Sprache, alle anderen sprechen Fremdsprachen.

Der Bartender in New York weiss von unserem Land nicht nur die Sache mit den Kühen, den Bergen und den Uhren, sondern er weiss auch, dass die Schweiz viersprachig ist - nein, nicht drei, sondern vier, er legt Wert darauf- und er fragt mich nach dem Namen der vierten.

Mir ist das jedes Mal peinlich - ich kann zum Beispiel, um für einmal zu untertreiben - kein Romanisch. Und ich lebe nicht in einer viersprachigen Schweiz, sondern in einem Land, in dem meine eigene Sprache eine Fremdsprache ist. Meine Miteidgenossen, Schweizer Touristen, haben meinem Bartender einen Bären aufgebunden. Sie haben ihm erklärt, dass die Schweiz viersprachig ist - dabei ist sie einsprachig wie jede andere Gegend der Welt. Französisch ist auch hier eine Fremdsprache und Deutsch auch. Es liegt ein Stück Arroganz in der Geschichte der Viersprachigkeit, von der wir Bartendern in der ganzen Welt erzählen. Denn wenn die Schweiz viersprachig ist, dann sind es eben wir Schweizer auch. Wir Schweizer sind mitunter überzeugt davon, dass wir die einzigen sind, die Fremdsprachen beherrschen - die Deutschen jedenfalls nicht und die Engländer auch nicht. Wir glauben, sozusagen, dass Viersprachigkeit so etwas wie ein Kollektivbesitz ist - ich Schweizer spreche die vier Sprachen zwar nicht, aber wir Schweizer schon.

Es gibt Menschen, die eine Sprache sprechen, und es gibt Menschen die Fremdsprachen sprechen. Jene, die Fremdsprachen sprechen sind die anderen. Die sind auch ganz anders, die haben viel mehr Temperament, sind oberflächlicher oder tiefgründiger oder haben gar eine slawische Seele oder die Schwermut der Portugiesen. Die Mitte jedenfalls sind wir - bin ich - wer traurig ist, der ist trauriger als ich, wer fröhlich ist, der ist fröhlicher als ich. Fremd (Fremdsprache) kann besser oder schlechter heissen. Gleich kann es nicht heissen. Gleich sind nur wir, bin nur ich.

Meine Damen, meine Herren, ich war kürzlich in Norwegen. Wissen Sie, dass die Norweger nicht wie Norweger aussehen, sondern wie wir? In der Slowakei war ich auch - ein verlorenes, vergessenes Land - auch die Slowaken sehen nicht aus wie Slowaken. Sie haben zwei Beine, zwei Ohren, zwei Augen und eine Stimme, die selbe Stimme wie wir, mit der man sprechen kann. Und wenn sie wütend sind, kann ich das an ihrem Tonfall erkennen, und wenn sie zärtlich sind, auch und auch wenn sie bitten und wenn sie befehlen.

Und wir hätten uns anzugewöhnen, die Auffächerung dieser einen Sprache, die mit Kehlkopf, Zunge und Lippen gebildet wird, als Sprachen zu bezeichnen und nicht als Fremdsprachen.

Dies alles nur zur Begrüssung. Und jetzt versuche ich zu beginnen. Für mich - nur für mich - beginnt Sprache mit der Luther-Übersetzung der Bibel. Die deutsche, die neuhochdeutsche Sprache, hat ihren Ursprung in einer Übersetzung. Sie wäre aus sich selbst heraus nicht entstanden. Sie stammt aus dem Latein der Vulgata so sehr wie aus dem Hebräischen, von dem Melanchton dem Luther eindringlich erzählte, und sie stammt aus dem Mittelhochdeutschen, nicht einfach nur durch etymologische Zufälle, sondern durch den kräftigen Willen Luthers, zu übersetzen.

Also ganz von Anfang an:

"Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser." (1)

Nein, Luther ist das nicht, und trotzdem, es ist die Sprache Luthers, die kräftige Sprache Luthers: Deutsch. Hergestellt aus den Übersetzungsschwierigkeiten - nein, Übersetzungsfreuden - aus dem Hebräischen von Martin Buber und Franz Rosenzweig, 1926. Den Satz "Es gibt nur Eine Sprache" - und "Eine" gross geschrieben wie das "Er" im Sinne von Gott - den Satz habe ich von Franz Rosenzweig, der in seinem Nachwort zu einer Übersetzung von Juda Halevi, dem grossen jüdisch-spanischen Dichter aus dem 12. Jahrhundert, schrieb: "Es gibt nur Eine Sprache. Es gibt keine Spracheigentümlichkeiten der einen, die sich nicht, und sei es in Mundarten, Kinderstuben, Standeseigenheiten, in jeder anderen keimhaft nachweisen Hesse." (2) Buber und Rosenzweig wollten erstens eine Bibel schaffen, in der deutsche Juden auf deutsch Hebräisch lesen und verstehen können, und sie wollten zweitens in die deutsche Sprache und Kultur ein Stück Hebräisch einbringen. Sie wollten - letztlich - dasselbe wie Luther noch einmal, und noch einmal so neu und überraschend wie Luther damals war.

Es gibt nur Eine Sprache, das heisst letztlich auch: Es gibt keine Fremdsprachen. Und es gibt Beispiele genug dafür, dass Fremdsprachenkenntnisse den Rassismus nicht überwinden können. Eichmann zum Beispiel konnte Jiddisch. Und ich hörte kürzlich von einem Schweizer, der mehrere Fremdsprachen spricht, darunter sehr entfernte asiatische Sprachen, und der sich inzwischen der Neonaziszene angeschlossen hat und mit Vehemenz Auschwitzlügen-Pamphlete schreibt. Was er kann, das sind offensichtlich nur Fremdsprachen und nicht andere Sprachen.

Das ist der grosse Vorteil der anderen Sprachen, dass sie übersetzbar sind - immer wieder übersetzbar sind. Keine Sprache der Welt würde überleben ohne die anderen. Sprache ist erst beim Turmbau zu Babel entstanden. Denn Sprache entsteht nur durch Sprachen, und ohne Sprachen gibt es keine Sprache.

Der grosse Nachteil der eigenen Sprache ist ihre Unübersetzbarkeit. Sie ist so letztlich nicht interpretierbar, also letztlich nicht reflektierbar.

Ich fürchte mich selbst vor dem, was mir hier einfällt -also einfacher.

Und ich beginne - jetzt endlich - mit einer Geschichte:

Vor einem grossen Schiff im Hafen von Rotterdam steht ein Schweizer mit einem kleinen Paket in der Hand. Oben an der Reling steht ein Matrose. Und der Schwei¬zer ruft ihm zu: "He Sie, chönteder das Päckli am Kapitän gäh" ("Könnten Sie dieses Paket dem Kapitän geben"). Der Matrose rührt sich nicht. "He", ruft der Schweizer, "chönteder das Päckli am Kapitän gäh" und als der Matrose wieder nicht reagiert, ruft der Schweizer nach langem Nachdenken: "Français - parlez vous français." Keine Reaktion. "Englisch", ruft der Schweizer. Nichts. "Oder italiänisch - Italiano". Der Matrose hängt immer noch still über die Reling. "Spanisch - Spanien - Español", ruft der Schweizer. Und jetzt endlich die Antwort: "Sí, señor, sí señor, habla español." "Also", ruft der Schweizer erleichtert, "chönteder das Päckli am Kapitän gäh."

Ein Witz - aber in diesem Falle meine ich es als Geschichte. Sie endet - das ist der Witz der Witze - zu früh. Denn die Frage der Geschichte - nicht des Witzes - ist, ob das Paket den Kapitän erreicht hat. Ich würde annehmen, ja. Denn wenn die beiden sich auch nicht wirklich verständigen konnten; sie haben mit einem einzigen spanischen Wort "español" sprachlichen Kontakt gefunden. Der Matrose hatte endlich eine Stimme. Der Kontakt war hergestellt. Sie hatten jetzt nur noch eine Sprache zu finden, irgendeine selbstgemachte Sprache, mit der sie das Problem bewältigen. Ich bin sicher, der Kapitän kriegt das Paket.

Ich denke an meinen grossen sprachlichen Schrecken auf dem Bahnhof von Assuan in Ägypten. Ich war mit dem Zug von Kairo nach Assuan gefahren, ein wunderbarer Luxuszug mit Schlafwagen. Mein Nachbar im Schlafwagenabteil war ein Feuerwehrmann aus Kairo - ein Feuerwehroffizier. Er fuhr für drei Tage zu einem Kongress über Brandbekämpfung in Assuan. Er sah nicht aus wie ein Offizier, ein sehr einfacher, freundlicher Mann. Ich erzählte ihm, ich sei Schriftsteller. Er selbst hatte einen Stapel von arabischen Büchern mit sich. Er lese nur religiöse Bücher, aber er lese viel, erklärte er mir. Kurz vor Assuan verabschiedeten wir uns. Wir waren gern miteinander gefahren. Die Verabschiedung war schwierig und umständlich. Nun stand ich also im Bahnhof von Assuan - alleingelassen mit meinem Schrecken, der Schrecken darüber, verstanden zu haben (der Schrecken von Moses, Gott verstanden zu haben - Gott, den unverständlichen), denn erst jetzt auf dem Bahnsteig fiel mir ein, dass ich nur ein Wort in Arabisch kenne - schukran - dankeschön - und dass er kein Wort englisch konnte. Aber ich war ganz sicher, dass er zu einem Feuerwehrkongress nach Assuan fuhr, und einer seiner Söhne war Arzt. Nur hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie wir uns das mitgeteilt hatten. Ich erinnere mich an keine Gesten, ich erinnere mich an keine Laute. Das einzige, was ich wusste, ist, dass ich es wusste. So mag es Mose ergangen sein, als er mit den Gebotstafeln im Tal ankam. Vielleicht hat er sie deshalb in seinem Schrecken zerschlagen.

Ich weiss nicht, wie wir uns verständigten. Das einzige, was ich weiss, ist, dass sich Sprache eingestellt hatte. Sprachen stellen sich ein. Zwei Menschen von irgendwo her, die sich irgendwo, zum Beispiel in einer Notsituation - Verliebtheit zum Beispiel - treffen, werden sich verstehen, weil sich Sprache einstellen wird - das Rosen-zweigsche "Es gibt nur Eine Sprache".

Eine andere Geschichte, eine wahre. Ich hatte das grosse Glück, den grossen Strukturalisten Roman Jakobson zu treffen. Wir blödelten eine ganze Nacht zusammen, und eine anwesende Germanistin hatte mit ihm Ernsthaftes im Sinn und ihren Ärger mit uns. Roman Jakobson wusste nicht, wieviele Sprachen er konnte, und es ging die Legende um, dass er alle kann. Ich wollte wissen, welches seine Muttersprache sei. Er wusste es nicht. Ich fragte ihn, in welcher Sprache er einen zähnefletschenden Hund beruhige. Er wusste es nicht. Und auf meine Frage, wieviele Sprachen er denn eigentlich - schätzungsweise - könne, sagte er: "Perfekt nur eine, die indogermanische." Ich hielt auch das immer für eine witzige Bemerkung bis ich auf das Zitat von Rosenzweig stiess: Es gibt nur Eine Sprache. So muss das Jakobson gemeint haben als er sagte: "Eigentlich kann ich nur eine."

Auf die Frage: "Wie lernt man Sprachen", auf die Fragen: "In welcher Sprache träumen Sie", "In welcher Sprache denken Sie", wusste er keine Antwort. Ich glaube, inzwischen kenne ich die Antwort: Eben in der Einen Sprache, in der Sprache der Menschen, die mit Kehlkopf, Zunge und Lippen hergestellt wird.

Denn daran erinnere ich mich. Wir haben gesprochen miteinander, der Feuerwehrmann und ich - mit Lippen und Zungen und Kehlkopf. Es hatte sich Sprache eingestellt. Und diesmal nicht einmal aus Not, nur aus Freundlichkeit. Diese Sprache hat auch einen Namen: Es ist die Sprache der Menschen.

Den Erfindern von künstlichen Weltsprachen - Esperanto zum Beispiel - muss das unbekannt gewesen sein, dass es nur Eine Sprache gibt.

Es gibt inzwischen eine Sprache, die wir Weltsprache nennen. Und wir bezeichnen diese Sprache als Englisch, zwar fälschlicherweise, aber die Angelsachsen, vor allem die Amerikaner, sind grosszügig genug, gegen diese Bezeichnung - Englisch - nicht Einspruch zu erheben. Ich kann sie einigermassen. Mein Sohn kann sie perfekt - ohne je in England oder Amerika gewesen zu sein, ohne je Unterricht oder Selbstunterricht genommen zu haben.

Die Sprache hat sich bei ihm eingestellt - nicht etwa das Englische oder das Amerikanische - sondern "nur" die Weltsprache, die nicht nur zufälligerweise auch Englisch heisst. Diese Weltsprache Englisch ist eine total brauchbare Sprache, brauchbar auch für Persönliches und Intimes und Poetisches. Sie orientiert sich übrigens immer wieder am Original und führt auch nach und nach auf das Original, das Englische, zu. Es gibt auch Leute - Hotelangestellte zum Beispiel - die beide Sprachen beherrschen, das Weltenglisch und das nationale Englisch, die also mit dem Amerikaner und mit mir nicht in genau derselben Sprache sprechen.

Wenn ein junger Norweger, ein junger Portugiese, ein junger Tscheche und ein junger Amerikaner zusammen sind, dann werden sie sich in dieser Sprache unterhalten - und der einzige, der sie vorerst zu lernen hat, wird der Amerikaner sein. Er wird es leicht haben - etwa so leicht wie einem Alemannen das Neuhochdeutsche fällt - denn die Weltsprache des Portugiesen ist abgeleitet von der Muttersprache des Amerikaners. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch das Pidgin-English, eine Behelfssprache aus dem 17./18. Jahrhundert mit einem minimalen englischen Wortschatz und chinesischer Lautung, Wort-bildung und Syntax. Für einen Engländer war es wohl wesentlich schwerer, sie zu lernen als für einen Chinesen. Also schon damals eine grosszügige Leistung der Engländer, wenn auch nicht eine uneigennützige, sie wollten Handel treiben. Aber selbst die sprachprüden noblen Engländer zogen Verständigung der Reinerhaltung der Sprache vor.

Die Klage der Franzosen darüber, dass das Französische als Weltsprache verschwunden ist, ist verständlich und berechtigt. Vielleicht wäre Französisch als Weltsprache sogar geeigneter gewesen. Französisch hatte aber einen gravierenden Nachteil: Die Franzosen waren nicht bereit, ihre Sprache dafür zur Verfügung, zur freien Verfügung zu stellen, sie dafür freizugeben. Den Richtern des französischen Verfassungsgerichts sei jedenfalls herzlich gedankt dafür, dass sie der endgültigen Beseitigung, nämlich Isolierung, der französischen Sprache Einhalt geboten und das sprachrassistische Gesetz wieder einzogen - denn Sprache kommt von Sprachen, und ohne Sprachen gibt es keine Sprache.

In der multilingualen Schule jedenfalls - davon bin ich überzeugt - haben Sprachreiniger nichts zu suchen. Mir jedenfalls könnte es gefallen, wenn man sie EIN-sprachige Schulen nennen würde. ("EIN" gross geschrieben)

Vor zwei Monaten war ich als Gast in einem bilingualen Gymnasium in Poprad in der Slowakei. Der Unterricht findet dort in Deutsch und Slowakisch statt, und das Deutsch der Schüler war deutsch, dasselbe Deutsch wie meines. Poprad liegt in der kleinen Tatra, aus unserer Sicht also irgendwo. Ich war begeistert. Irgendwo wird ohne jeden Grund Deutsch gelernt. Wenn das nur wahr wäre. Ich möchte, dass das wahr ist - oder irgend einmal wahr wird, denn vorläufig verhält sich das noch ein bisschen verkrampfter. In jener Gegend gab es vor dem Krieg grosse deutsche Sprachminderheiten, die Karpatendeutschen. Ihre Geschichte ist wie alle Geschichte nicht nur sauber. Und die Schule wird inzwischen finanziert von der Bundesrepublik - wie auch immer, das sei deutlich gesagt, Schulen finanzieren ist etwas Gutes -nur, deutsche Schulen sind eben auch gute Schulen, und selbst in der armen Slowakei gibt es Ärmere und Reichere. Und die bilinguale Schule ist nicht die Schule der mausarmen deutschen Sprachminderheit, die es auch kaum mehr gibt, sondern die Schule jener, die in eine gute Schule gehen und sie auch bezahlen können. Sie machen dort das deutsche Abitur. Letztlich sind sie in einer guten Schule und nehmen das Deutsch in Kauf. Das ist kompliziert, ich weiss es, und ich lasse es so hier stehen.

Ich meine nur, es sind die Hintergedanken, die die Gedanken desavouieren. Wenn Ihre Idee einer multilingualen Schule nicht mehr ist als ein neuer Trick, die beschämende Sprachsituation der Schweiz ein bisschen zu reparieren, dann kann man sie auch gleich lassen.

Wir brauchen keine neuen Tricks mehr, endlich dem Volk Deutsch und Italienisch und Französisch beizubringen. Wir haben doch genug Erfahrung darin, dass die vielen alten Tricks auch nicht geholfen haben.

In der Beiz sitzen zwanzig, dreissig junge Leute - sie sind oft hier. Sie haben ein einziges Thema - Autos - und sie haben wunderschöne, aufgetakelte Freundinnen. Man nennt sie abschätzig Italos und meint damit Zweitgene-rations-Italienerinnen und -Italiener. Sie lieben es, hier Italienisch zu sprechen. Eigentlich ist es ihre Sprache nicht. Es ist die Sprache ihrer Eltern. Eine zweite Sprache haben sie hier auf der Strasse gelernt, und die Strasse hier ist deutsch. Aber sie beherrschen die Sprache ihrer Eltern perfekt, und sie fallen, ohne dass sie es merken immer wieder in die andere Sprache, das Schweizerdeutsche. Eigenartig ist nur, dass die meisten der hier Sitzenden wohl in unserer Schule gescheitert sind. Dass ihre Ein-Sprachigkeit ("Ein" gross geschrieben) kein Vorteil war in der Schule, in der sie waren. Dass es in der Schweizer Schule kein Vorteil für sie war, zwei schweizerische Landessprachen perfekt zu beherrschen.

Ich frage mich ernsthaft, ob ihre Einsprachigkeit denn ein Vorteil für sie wäre in der multilingualen Schule. Ich möchte gern, dass Sie die Frage beantworten. Aber ich beantworte sie selbst:

Leider nein. Denn was auch immer geschieht mit Schule, wie gut sie auch immer ist und werden wird, die Gesellschaft wird von ihr nie Bildung wollen, sondern nur Selektion und Auszeichnung und im besten Falle Ausbildung - und diese (Entschuldigung) "Italos" gehören ausselektioniert. Diese Vorstellung der Gesellschaft setzt sich durch, ohne dass die Schule dagegen etwas tun kann. Abgesehen davon, dass die Schule hilflos wird, wenn die Schüler etwas bereits können. Sie lebt davon, dass das Lernen mühsam ist. Wäre Sprachenlernen keine Mühe, dann hätte Sprachenlernen in der Schule gar nichts zu suchen. Denn in der Schule hat man das Arbeiten zu lernen und nicht die Sache.

Aber noch mal zurück zu diesen Zweit- und Drittgene-rations-Italienerinnen. Sie sprechen die Sprache ihrer Eltern perfekt, aber Italienisch ist nicht ihre Muttersprache, ist nicht ihre Sprache. Mit ihrem Deutsch verhält es sich gleich. Sie sind nicht zweisprachig aufgewachsen, wie das vielen anderen Einzelnen auch geschieht - eine englische Mutter, ein französischer Vater, der mit seiner Familie in Spanien lebt - sondern diese (noch einmal Entschuldigung) Italos sprechen die Sprache "Italienisch und Deutsch". Das ist ihre Sprache geworden. Ihre Sprachsituation ist eine gemeinsame - noch viele Gleichaltrige leben hier in dieser Sprache. Sie können sich in dieser Sprache gemeinsam unterhalten. Der dauernde Sprachwechsel amüsiert sie, ist Rollenspiel. Im übrigen, sie sind viel eher Svizzeros als Italos. Denn unsere Gegend hat die Voraussetzung für Ihre Ein-sprachigkeit geschaffen. Die Sprache "Svizzero", die nicht eine Mischsprache ist, sondern eine Doppelsprache, hat sich für sie als gemeinsame Sprache eingestellt.

Sprachen lernen ist ein Unsinn, denn Sprache muss sich einstellen. Sie stellt sich ein durch Notwendigkeit - ich will mit meinem ägyptischen Feuerwehrmann freundlich sein - oder sie stellt sich ein, weil ich das will, dringend will und weil ich mich dringend darum bemühe. Sprache kann nicht gemacht und sie kann nicht verordnet werden, sie muss sich einstellen. Die multilinguale Ein-sprachige Schule ("Ein" bitte gross geschrieben) wäre eine Chance, aber sie müsste mehr überwinden als nur heutige Gepflogenheiten des Fremdsprachenunterrichts. Die Problemstellung ihrer Arbeitsgemeinschaft ist ein in Frage stellen der Schule -als Leistungs- und Selektionsschule - an und für sich. Die Svizzeros sprechen nur eine Sprache, ihre zweisprachige und eine Sprache. Eine dritte wäre für sie kein Problem und eine vierte auch nicht. Aber - noch einmal - sie sind in unserer Schule gescheitert, und - noch einmal - ich stelle Ihnen die Frage, ob sie die Absicht haben, sie in Ihrer Schule nicht scheitern zu lassen, denn Ihre Schule wäre nach meiner Vorstellung eine Ein-sprachige Schule, und ich wäre jedenfalls glücklich, wenn Schweizer Touristen meinem Barkeeper in New York dereinst mal beibringen würden, dass die Schweiz ein Ein-sprachiges Land ist, und wenn mich dann der Barkeeper nicht nach dem Namen der vierten Sprache fragen würde, sondern nach dem eigenartigen Umstand, dass in der Schweiz EIN-sprachig gross geschrieben wird.

Oder dann die Geschichte - auch eine schweizerische, denn die Schweiz ist längst nicht mehr viersprachig, hier wird auch Türkisch gesprochen und Spanisch und Galizisch und Serbokroatisch, auch wenn diese Sprache nicht mehr so heissen will - die Geschichte also, die mir kürzlich ein Freund erzählt hat:

Sein Schwiegervater ist Spanier und er arbeitet als Maurer in der Schweiz. Er ist sehr stolz darauf, dass er Italienisch kann, nämlich perfekt, weil auf dem Bau auch viele Italiener sind. So geht denn der Schwiegervater auch gern mit in die Ferien nach Italien. Dort setzt er sich stolz ins Restaurant und bestellt auf italienisch. Dann kriegt er eine grosse Wut auf ganz Italien, weil die italienischen Kellner kein Italienisch verstehen. Seinen italienischen Kollegen auf dem Bau wird es in Spanien genauso gehen, und dem Schweizer Maurer in beiden Ländern wohl auch. Was er gelernt hat auf dem Bau war durchaus perfektes Italienisch, das perfekte Italienisch des Baus. Es hatte sich dort zwischen Italienern und Spaniern Sprache eingestellt. Das ist nicht für nichts, das dient der Kommunikation. Und das ist wirklich Italienisch, eine Form des Italienischen, die im übrigen keine schlechte Voraussetzung dafür wäre, das zentrale Italienisch zu lernen. Was für ein Italienisch er auch kann - er kann ganz sicher ein besseres als ich.

In dem Brief der Schüler der Scuola di Barbiana an ihre ehemalige Lehrerin steht folgendes dazu:

"Übrigens müsste man sich erst einigen, was man unter korrekter Sprache versteht. Die Sprachen werden von den Armen geschaffen, die sie dann immer wieder weiterbilden und erneuern. Die Reichen hingegen legen sie fest, um jene verspotten zu können, die nicht so sprechen wie sie. Oder um sie durchfallen zu lassen.

Ihr sagt, dass Pierino, der Sohn des Doktors gutschreibt. Klar, er spricht wie Ihr. Er gehört gewissermassen zur ' Firma. Die Sprache aber, die Gianni spricht und schreibt, ist jene seines Vaters. Als Gianni klein war, nannte er das Radio "lalla". Und der Vater meinte, ernsthaft: "Man sagt nicht "lalla", man sagt der "aradio".

Nun mag es gut sein, dass Gianni auch lernt, Radio zu sagen. Eure Sprache könnte ihm nützlich sein. Aber inzwischen könnt ihr ihn nicht aus der Schule vertreiben. "Alle Bürger sind gleich, ohne Unterschied der Sprache" So hat es die italienische Verfassung bestimmt, und dabei an ihn gedacht." (3)

Und selbst der Begriff Muttersprache / Vatersprache hat seine Fraglichkeit. Meine Enkelin in Zürich, Tochter einer Mutter aus Solothurn und eines Vaters aus Basel spricht fast von Anfang an die Sprache der Gegend: Zürichdeutsch. Das ist für niemanden beleidigend und das ist selbstverständlich: Sprache wird nicht übertragen, sie stellt sich ein. Auch Mundartpflege - die schöne, gute, alte Mundart - hat rassistische Merkmale. Sprachveränderungen sind Sprachbereicherungen und nicht Sprach Verarmungen. Es hat seine Gründe, dass wir in unseren schweizerdeutschen Mundarten mehr und mehr die neuhochdeutschen Wörter - ins alemannische umgelautet - vorziehen. Wir leben schon länger etwas neuhochdeutscher, und meine 5jährige Enkelin spricht ein wunderbares Hochdeutsch, stellt ihren Kehlkopf dabei etwas anders und hat ihren Riesenspass an der perfekten Imitation. Dazu ist sie von niemandem angeleitet worden, sie hat es nur am Fernsehen gehört, es hat sie amüsiert, sie fand es komisch und lustig. Ihr Lehrer in der Schule wird das dann wohl nicht akzeptieren, schade.

Denn Rollenspiel gilt bei uns als unanständig, als äffig. Das mag mit ein Grund sein, dass den Deutschschweizern Sprache an und für sich - nämlich auch die eigene -schwer fällt. Sprache ist immer Nachahmung, ist Rollenspiel. Sprache ist witzig und gewitzt. Sollte das der Schweizer in Rotterdam gewusst haben - aber eben, er war ein Deutschschweizer - sollte er es trotzdem gewusst haben, der Kapitän wäre zu seinem Paket gekommen. In Norwegen war ich an einer Buchmesse. Es gab dort abends eine Lesung eines irakischen Poeten, der zu meiner Überraschung seine Lyrik nicht pathetisch, sondern ganz pragmatisch vortrug und mich damit überzeugte, dass seine Sprache eine Sprache ist. Im Publikum verstand wohl niemand irakisch. Trotzdem unterstrich der Poet seine Lyrik mit grossen, erklärenden Gesten. Sein Übersetzer trug die norwegische Übersetzung vor. Ich verstand beides nicht, und das gab mir ein Erlebnis, das den Norwegern verschlossen blieb, das wunderbare Erlebnis von zwei Sprachen im Dialog. Nicht zwei Fremdsprachen, sondern zwei Eigensprachen, und als solche waren sie mir nicht mehr fremd und auch nicht mehr sehr verschieden. Es gibt nur Eine Sprache.

Das hätte man mir zur rechten Zeit beibringen sollen oder ich hätte zur rechten Zeit selbst darauf kommen sollen. Schon nur der Hinweis, dass Sprachen einfach sind, und dass jede Sprache nichts anderes ist als eine Form der menschlichen Sprache, nicht etwas Fremdes, sondern etwas sehr eigenes, das Menschliche. Ich habe Norwegisch und Irakisch als zwei Formen der einen Sprache erlebt. Verstanden habe ich wirklich nichts, aber ich habe gerade deshalb verstanden, dass hier zwei Menschen sprechen - annähernd dasselbe in zwei Formen.

Ich weiss, ich bin ein Schwärmer, und ich weiss, dass das, was ich mir wünschte, auch die mehrsprachige Schule nicht wird leisten können - aus dem einzigen Grund, weil sie sich in irgendeiner Form als nützlich darzustellen hat - etwa so wie die Schule in Poprad in Slowakien für Söhne und Töchter aus dem mittleren und höheren Management ihre Nützlichkeit hat.

Ich meine das nicht als Miesmacherei. Ein Anfang ist immerhin ein Anfang. Und immerhin heisst Ihr Projekt nicht "fremdsprachiger Unterricht" sondern "mehrsprachiger". Denn ich bin eigentlich fast sicher, dass die Kenntnisse von Fremdsprachen nationale Schranken nicht abbauen können - es gibt Rassisten, die mehrsprachig sind. Etwas anderes aber, davon bin ich überzeugt, kann Rassismus wirklich abbauen, die Bildung, die Lust an der Bildung.

Übrigens, das Wort "mies" - ein durch und durch deutsches Wort - (Miesmacherei), so sagt mir mein Duden, kommt aus dem Hebräischen. Das erinnert mich an Rosenzweig. Die Sprachen müssen früher einmal viel näher zusammengelebt haben - damals als die Menschen noch nicht so nahe zusammen wohnten. Wörter haben eine Herkunft. Das sollte Sprachreinigern zu denken eben, aber sie haben ohnehin nicht Sprache im Sinn, sondern Nationalismus. Und ich erinnere mich an jenen koptischen Wissenschaftler, den ich damals in Kairo traf. Er lebte mit Schreibverbot, mit Existenzverbot sozusagen. Er hatte das erste grosse Standardwerk geschrieben über die Etymologie der arabischen Sprache. Man hatte ihn dafür eingesperrt, man hatte ihn dafür gefoltert, denn, so sagten seine Gegner, die arabische Sprache hat keine Herkunft, sie kommt von Gott. So jedenfalls möchte ich das grossgeschriebene "Eine", es gibt nur Eine Sprache, nicht verstanden haben. Die Sprache kommt von den Menschen und sie verändert und bereichert sich durch Gebrauch, durch bewussten Gebrauch - als Beispiel die Sprachbemühungen der Feministinnen, die mir einleuchten - und durch fahrlässigen Gebrauch auch.

Gebt die Sprachen endlich frei zum Gebrauch, holt dieses verfluchte Sonntagsgeschirr aus den Schränken und lasst uns darauf tafeln - ohne Furcht, dass es dabei zu Brüchen gehen könnte. "Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen", hat Jean Paul 1807 in seiner Erziehlehre, der "Levana", geschrieben. Er - der Vielsprachige und Sprachgewandte - hat damit nicht etwa nur die deutsche Sprache gemeint - sondern Sprache an und für sich. Darf ich es wiederholen: "Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen." (4)

Das meinte ich zu Beginn: Bis jetzt waren Sie Fremdsprachenlehrerinnen, in der neuen Schule könnten Sie Sprachlehrer werden, denn, zum dritten Mal, Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen. Und es gibt nur Eine Sprache. Und wenn mich nun die fleissigen und die faulen unter Ihnen fragen würden, welche Sprachen sie dafür zu beherrschen hätten, dann ist die Antwort: Nur eine, nur die Eine. Und sollte Ihnen das zu wenig sein - Jakobson lässt grüssen.

Darf ich enden mit einer Bemerkung in eigener Sache. Es ist mir heute zum ersten Mal gelungen, über das Thema Sprache nachzudenken, ohne dabei dauernd über meine mangelnden Fremdsprachenkenntnisse zu lamentieren. Dafür bin ich mir dankbar, und ich danke auch meinem Freund Klaus Reichert, dem ich diesen Vortrag widmen möchte, denn er hat mir mit seiner kleinen Schrift über Rosenzweig und Buber "Zeit ist's" die Augen geöffnet für etwas ganz Einfaches, dass Sprache Sprache ist und nicht Fremdsprache.

Als ich vor 15 Jahren vor einem ähnlichen Kreis über meine "Erfahrungen beim Fremdsprachen lernen" (5) sprach, gefiel ich mir noch in einem grossen Lamento.

Trotzdem - lassen sie mich meinen Vortrag mit dem gleichen Lamento schliessen wie damals. Ich zitiere mich selbst und lese Ihnen den Schluss meiner Geschichte "Hugo" (6) vor:

"... doch seine Geschichte ist eine andere. Habe ich Ihnen schon erzählt, wie still und leise man mit ihm trinken konnte? Und ich will Ihnen auch nicht verschweigen, dass aus ihm selbstverständlich etwas geworden ist Denn das ist eine Geschichte, und in Geschichten wird man etwas.

Er könnte zum Beispiel nach seiner Lehre - vier Jahre -die Matura nachgeholt haben, in einem katholischen Internat, er könnte eine Leidenschaft für die uralten Bücher in Pergament entwickelt und dabei an seine Tante gedacht haben, die blinde. Er könnte Fussball-schiedsrichter geworden sein, ein Spiel zwischen Real Madrid und dem Hamburger Sportverein geleitet haben, für ein umstrittenes Tor in die Schlagzeilen gekommen sein, oder er könnte nach seiner Lehre nichts anderes mehr getan haben als Fremdsprachen gelernt, Albanisch und Kurdisch und Aramäisch, Haussa und Altslawisch, Gälisch und Katalanisch - Französisch nicht.

Doch seine Geschichte ist das nicht Es ist meine Geschichte, ich habe ihn überlebt, und ich sitze jetzt allein in der Kneipe und vermisse in der Stille und im Lärm seine Stille.

Was aus ihm geworden ist? Ein toter Mann, und ich stand an seinem Grab und dachte mir, da unten liegt es, sein Albanisch und sein Gälisch.

Da unten liegt sie, seine Stille, und vermodert."

Rede gehalten von Dr. h.c. Peter Bichsel anlässlich der Gründung der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz.

Bibliographie

  1. "Die Schrift" verdeutscht von Martin Buber, gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1992
  2. Klaus Reichert, "Zeit ist's. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext." Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1993, S.12
  3. "Scuola di Barbiana. Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin." Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1970, S.34
  4. Jean Paul, "Levana oder Erziehlehre" in J.P. Sämtliche Werke, Bd. 1/5, München: Carl Hanser Verlag, 1987 (ich verzichte auf eine Seitenangabe, weil ich Leser suche - unter Lehrern auch - für die ganze Levana von Jean Paul)
  5. "Didaktik und Methodik des Französischunterrichts vom 475. Schuljahr an", Bern: Informationsbulletin EDK 24/1980, S. 77-89 und Peter Bichsel, "Schul-meistereien", Hamburg: Sammlung Luchterhand, 1987, S.52ff.
  6. Peter Bichsel, "Zur Stadt Paris", Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1993, S.82f.

Text da fundaziun

Peter Bichsel: Es gibt nur Eine Sprache

(für Klaus Reichert)

Meine Damen, meine Herren,

Ich gratuliere Ihnen zu der Gründung Ihrer Arbeitsge-meinschaft, was Sie hier machen, das ist tapfer und selbstlos. Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer sind - mit der Gründung Ihrer Arbeitsgemeinschaft geben Sie zu, dass ein französisch sprechender Chemielehrer ein besserer Französischlehrer ist und eine deutschsprechende Turnlehrerin eine bessere Deutschlehrerin. Sie haben sich heute selbst abgeschafft - mein Kompliment.

Doch Sie wissen, dass es erstens so schlimm nicht werden wird, Arbeitsgemeinschaften werden ja in der Regel nicht gegründet, um erfolgreich zu sein, sondern nur um da zu sein. Das ist nicht Nichts. Da-sein ist schon etwas. Und zweitens würden Sie wohl nur als Fremdsprachenlehrerinnen abgeschafft und nicht als Sprachlehrer, denn Sprache lernen (und lehren) ist etwas Anderes als Fremdsprache lernen.

Fremdsprache ist ein eigenartiger Begriff. Auf der ganzen Welt werden ausschliesslich nur Fremdsprachen gesprochen - ausser bei uns. Wir - wer wir auch immer sind - sprechen eine Sprache, alle anderen sprechen Fremdsprachen.

Der Bartender in New York weiss von unserem Land nicht nur die Sache mit den Kühen, den Bergen und den Uhren, sondern er weiss auch, dass die Schweiz viersprachig ist - nein, nicht drei, sondern vier, er legt Wert darauf- und er fragt mich nach dem Namen der vierten.

Mir ist das jedes Mal peinlich - ich kann zum Beispiel, um für einmal zu untertreiben - kein Romanisch. Und ich lebe nicht in einer viersprachigen Schweiz, sondern in einem Land, in dem meine eigene Sprache eine Fremdsprache ist. Meine Miteidgenossen, Schweizer Touristen, haben meinem Bartender einen Bären aufgebunden. Sie haben ihm erklärt, dass die Schweiz viersprachig ist - dabei ist sie einsprachig wie jede andere Gegend der Welt. Französisch ist auch hier eine Fremdsprache und Deutsch auch. Es liegt ein Stück Arroganz in der Geschichte der Viersprachigkeit, von der wir Bartendern in der ganzen Welt erzählen. Denn wenn die Schweiz viersprachig ist, dann sind es eben wir Schweizer auch. Wir Schweizer sind mitunter überzeugt davon, dass wir die einzigen sind, die Fremdsprachen beherrschen - die Deutschen jedenfalls nicht und die Engländer auch nicht. Wir glauben, sozusagen, dass Viersprachigkeit so etwas wie ein Kollektivbesitz ist - ich Schweizer spreche die vier Sprachen zwar nicht, aber wir Schweizer schon.

Es gibt Menschen, die eine Sprache sprechen, und es gibt Menschen die Fremdsprachen sprechen. Jene, die Fremdsprachen sprechen sind die anderen. Die sind auch ganz anders, die haben viel mehr Temperament, sind oberflächlicher oder tiefgründiger oder haben gar eine slawische Seele oder die Schwermut der Portugiesen. Die Mitte jedenfalls sind wir - bin ich - wer traurig ist, der ist trauriger als ich, wer fröhlich ist, der ist fröhlicher als ich. Fremd (Fremdsprache) kann besser oder schlechter heissen. Gleich kann es nicht heissen. Gleich sind nur wir, bin nur ich.

Meine Damen, meine Herren, ich war kürzlich in Norwegen. Wissen Sie, dass die Norweger nicht wie Norweger aussehen, sondern wie wir? In der Slowakei war ich auch - ein verlorenes, vergessenes Land - auch die Slowaken sehen nicht aus wie Slowaken. Sie haben zwei Beine, zwei Ohren, zwei Augen und eine Stimme, die selbe Stimme wie wir, mit der man sprechen kann. Und wenn sie wütend sind, kann ich das an ihrem Tonfall erkennen, und wenn sie zärtlich sind, auch und auch wenn sie bitten und wenn sie befehlen.

Und wir hätten uns anzugewöhnen, die Auffächerung dieser einen Sprache, die mit Kehlkopf, Zunge und Lippen gebildet wird, als Sprachen zu bezeichnen und nicht als Fremdsprachen.

Dies alles nur zur Begrüssung. Und jetzt versuche ich zu beginnen. Für mich - nur für mich - beginnt Sprache mit der Luther-Übersetzung der Bibel. Die deutsche, die neuhochdeutsche Sprache, hat ihren Ursprung in einer Übersetzung. Sie wäre aus sich selbst heraus nicht entstanden. Sie stammt aus dem Latein der Vulgata so sehr wie aus dem Hebräischen, von dem Melanchton dem Luther eindringlich erzählte, und sie stammt aus dem Mittelhochdeutschen, nicht einfach nur durch etymologische Zufälle, sondern durch den kräftigen Willen Luthers, zu übersetzen.

Also ganz von Anfang an:

"Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser." (1)

Nein, Luther ist das nicht, und trotzdem, es ist die Sprache Luthers, die kräftige Sprache Luthers: Deutsch. Hergestellt aus den Übersetzungsschwierigkeiten - nein, Übersetzungsfreuden - aus dem Hebräischen von Martin Buber und Franz Rosenzweig, 1926. Den Satz "Es gibt nur Eine Sprache" - und "Eine" gross geschrieben wie das "Er" im Sinne von Gott - den Satz habe ich von Franz Rosenzweig, der in seinem Nachwort zu einer Übersetzung von Juda Halevi, dem grossen jüdisch-spanischen Dichter aus dem 12. Jahrhundert, schrieb: "Es gibt nur Eine Sprache. Es gibt keine Spracheigentümlichkeiten der einen, die sich nicht, und sei es in Mundarten, Kinderstuben, Standeseigenheiten, in jeder anderen keimhaft nachweisen Hesse." (2) Buber und Rosenzweig wollten erstens eine Bibel schaffen, in der deutsche Juden auf deutsch Hebräisch lesen und verstehen können, und sie wollten zweitens in die deutsche Sprache und Kultur ein Stück Hebräisch einbringen. Sie wollten - letztlich - dasselbe wie Luther noch einmal, und noch einmal so neu und überraschend wie Luther damals war.

Es gibt nur Eine Sprache, das heisst letztlich auch: Es gibt keine Fremdsprachen. Und es gibt Beispiele genug dafür, dass Fremdsprachenkenntnisse den Rassismus nicht überwinden können. Eichmann zum Beispiel konnte Jiddisch. Und ich hörte kürzlich von einem Schweizer, der mehrere Fremdsprachen spricht, darunter sehr entfernte asiatische Sprachen, und der sich inzwischen der Neonaziszene angeschlossen hat und mit Vehemenz Auschwitzlügen-Pamphlete schreibt. Was er kann, das sind offensichtlich nur Fremdsprachen und nicht andere Sprachen.

Das ist der grosse Vorteil der anderen Sprachen, dass sie übersetzbar sind - immer wieder übersetzbar sind. Keine Sprache der Welt würde überleben ohne die anderen. Sprache ist erst beim Turmbau zu Babel entstanden. Denn Sprache entsteht nur durch Sprachen, und ohne Sprachen gibt es keine Sprache.

Der grosse Nachteil der eigenen Sprache ist ihre Unübersetzbarkeit. Sie ist so letztlich nicht interpretierbar, also letztlich nicht reflektierbar.

Ich fürchte mich selbst vor dem, was mir hier einfällt -also einfacher.

Und ich beginne - jetzt endlich - mit einer Geschichte:

Vor einem grossen Schiff im Hafen von Rotterdam steht ein Schweizer mit einem kleinen Paket in der Hand. Oben an der Reling steht ein Matrose. Und der Schwei¬zer ruft ihm zu: "He Sie, chönteder das Päckli am Kapitän gäh" ("Könnten Sie dieses Paket dem Kapitän geben"). Der Matrose rührt sich nicht. "He", ruft der Schweizer, "chönteder das Päckli am Kapitän gäh" und als der Matrose wieder nicht reagiert, ruft der Schweizer nach langem Nachdenken: "Français - parlez vous français." Keine Reaktion. "Englisch", ruft der Schweizer. Nichts. "Oder italiänisch - Italiano". Der Matrose hängt immer noch still über die Reling. "Spanisch - Spanien - Español", ruft der Schweizer. Und jetzt endlich die Antwort: "Sí, señor, sí señor, habla español." "Also", ruft der Schweizer erleichtert, "chönteder das Päckli am Kapitän gäh."

Ein Witz - aber in diesem Falle meine ich es als Geschichte. Sie endet - das ist der Witz der Witze - zu früh. Denn die Frage der Geschichte - nicht des Witzes - ist, ob das Paket den Kapitän erreicht hat. Ich würde annehmen, ja. Denn wenn die beiden sich auch nicht wirklich verständigen konnten; sie haben mit einem einzigen spanischen Wort "español" sprachlichen Kontakt gefunden. Der Matrose hatte endlich eine Stimme. Der Kontakt war hergestellt. Sie hatten jetzt nur noch eine Sprache zu finden, irgendeine selbstgemachte Sprache, mit der sie das Problem bewältigen. Ich bin sicher, der Kapitän kriegt das Paket.

Ich denke an meinen grossen sprachlichen Schrecken auf dem Bahnhof von Assuan in Ägypten. Ich war mit dem Zug von Kairo nach Assuan gefahren, ein wunderbarer Luxuszug mit Schlafwagen. Mein Nachbar im Schlafwagenabteil war ein Feuerwehrmann aus Kairo - ein Feuerwehroffizier. Er fuhr für drei Tage zu einem Kongress über Brandbekämpfung in Assuan. Er sah nicht aus wie ein Offizier, ein sehr einfacher, freundlicher Mann. Ich erzählte ihm, ich sei Schriftsteller. Er selbst hatte einen Stapel von arabischen Büchern mit sich. Er lese nur religiöse Bücher, aber er lese viel, erklärte er mir. Kurz vor Assuan verabschiedeten wir uns. Wir waren gern miteinander gefahren. Die Verabschiedung war schwierig und umständlich. Nun stand ich also im Bahnhof von Assuan - alleingelassen mit meinem Schrecken, der Schrecken darüber, verstanden zu haben (der Schrecken von Moses, Gott verstanden zu haben - Gott, den unverständlichen), denn erst jetzt auf dem Bahnsteig fiel mir ein, dass ich nur ein Wort in Arabisch kenne - schukran - dankeschön - und dass er kein Wort englisch konnte. Aber ich war ganz sicher, dass er zu einem Feuerwehrkongress nach Assuan fuhr, und einer seiner Söhne war Arzt. Nur hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie wir uns das mitgeteilt hatten. Ich erinnere mich an keine Gesten, ich erinnere mich an keine Laute. Das einzige, was ich wusste, ist, dass ich es wusste. So mag es Mose ergangen sein, als er mit den Gebotstafeln im Tal ankam. Vielleicht hat er sie deshalb in seinem Schrecken zerschlagen.

Ich weiss nicht, wie wir uns verständigten. Das einzige, was ich weiss, ist, dass sich Sprache eingestellt hatte. Sprachen stellen sich ein. Zwei Menschen von irgendwo her, die sich irgendwo, zum Beispiel in einer Notsituation - Verliebtheit zum Beispiel - treffen, werden sich verstehen, weil sich Sprache einstellen wird - das Rosen-zweigsche "Es gibt nur Eine Sprache".

Eine andere Geschichte, eine wahre. Ich hatte das grosse Glück, den grossen Strukturalisten Roman Jakobson zu treffen. Wir blödelten eine ganze Nacht zusammen, und eine anwesende Germanistin hatte mit ihm Ernsthaftes im Sinn und ihren Ärger mit uns. Roman Jakobson wusste nicht, wieviele Sprachen er konnte, und es ging die Legende um, dass er alle kann. Ich wollte wissen, welches seine Muttersprache sei. Er wusste es nicht. Ich fragte ihn, in welcher Sprache er einen zähnefletschenden Hund beruhige. Er wusste es nicht. Und auf meine Frage, wieviele Sprachen er denn eigentlich - schätzungsweise - könne, sagte er: "Perfekt nur eine, die indogermanische." Ich hielt auch das immer für eine witzige Bemerkung bis ich auf das Zitat von Rosenzweig stiess: Es gibt nur Eine Sprache. So muss das Jakobson gemeint haben als er sagte: "Eigentlich kann ich nur eine."

Auf die Frage: "Wie lernt man Sprachen", auf die Fragen: "In welcher Sprache träumen Sie", "In welcher Sprache denken Sie", wusste er keine Antwort. Ich glaube, inzwischen kenne ich die Antwort: Eben in der Einen Sprache, in der Sprache der Menschen, die mit Kehlkopf, Zunge und Lippen hergestellt wird.

Denn daran erinnere ich mich. Wir haben gesprochen miteinander, der Feuerwehrmann und ich - mit Lippen und Zungen und Kehlkopf. Es hatte sich Sprache eingestellt. Und diesmal nicht einmal aus Not, nur aus Freundlichkeit. Diese Sprache hat auch einen Namen: Es ist die Sprache der Menschen.

Den Erfindern von künstlichen Weltsprachen - Esperanto zum Beispiel - muss das unbekannt gewesen sein, dass es nur Eine Sprache gibt.

Es gibt inzwischen eine Sprache, die wir Weltsprache nennen. Und wir bezeichnen diese Sprache als Englisch, zwar fälschlicherweise, aber die Angelsachsen, vor allem die Amerikaner, sind grosszügig genug, gegen diese Bezeichnung - Englisch - nicht Einspruch zu erheben. Ich kann sie einigermassen. Mein Sohn kann sie perfekt - ohne je in England oder Amerika gewesen zu sein, ohne je Unterricht oder Selbstunterricht genommen zu haben.

Die Sprache hat sich bei ihm eingestellt - nicht etwa das Englische oder das Amerikanische - sondern "nur" die Weltsprache, die nicht nur zufälligerweise auch Englisch heisst. Diese Weltsprache Englisch ist eine total brauchbare Sprache, brauchbar auch für Persönliches und Intimes und Poetisches. Sie orientiert sich übrigens immer wieder am Original und führt auch nach und nach auf das Original, das Englische, zu. Es gibt auch Leute - Hotelangestellte zum Beispiel - die beide Sprachen beherrschen, das Weltenglisch und das nationale Englisch, die also mit dem Amerikaner und mit mir nicht in genau derselben Sprache sprechen.

Wenn ein junger Norweger, ein junger Portugiese, ein junger Tscheche und ein junger Amerikaner zusammen sind, dann werden sie sich in dieser Sprache unterhalten - und der einzige, der sie vorerst zu lernen hat, wird der Amerikaner sein. Er wird es leicht haben - etwa so leicht wie einem Alemannen das Neuhochdeutsche fällt - denn die Weltsprache des Portugiesen ist abgeleitet von der Muttersprache des Amerikaners. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch das Pidgin-English, eine Behelfssprache aus dem 17./18. Jahrhundert mit einem minimalen englischen Wortschatz und chinesischer Lautung, Wort-bildung und Syntax. Für einen Engländer war es wohl wesentlich schwerer, sie zu lernen als für einen Chinesen. Also schon damals eine grosszügige Leistung der Engländer, wenn auch nicht eine uneigennützige, sie wollten Handel treiben. Aber selbst die sprachprüden noblen Engländer zogen Verständigung der Reinerhaltung der Sprache vor.

Die Klage der Franzosen darüber, dass das Französische als Weltsprache verschwunden ist, ist verständlich und berechtigt. Vielleicht wäre Französisch als Weltsprache sogar geeigneter gewesen. Französisch hatte aber einen gravierenden Nachteil: Die Franzosen waren nicht bereit, ihre Sprache dafür zur Verfügung, zur freien Verfügung zu stellen, sie dafür freizugeben. Den Richtern des französischen Verfassungsgerichts sei jedenfalls herzlich gedankt dafür, dass sie der endgültigen Beseitigung, nämlich Isolierung, der französischen Sprache Einhalt geboten und das sprachrassistische Gesetz wieder einzogen - denn Sprache kommt von Sprachen, und ohne Sprachen gibt es keine Sprache.

In der multilingualen Schule jedenfalls - davon bin ich überzeugt - haben Sprachreiniger nichts zu suchen. Mir jedenfalls könnte es gefallen, wenn man sie EIN-sprachige Schulen nennen würde. ("EIN" gross geschrieben)

Vor zwei Monaten war ich als Gast in einem bilingualen Gymnasium in Poprad in der Slowakei. Der Unterricht findet dort in Deutsch und Slowakisch statt, und das Deutsch der Schüler war deutsch, dasselbe Deutsch wie meines. Poprad liegt in der kleinen Tatra, aus unserer Sicht also irgendwo. Ich war begeistert. Irgendwo wird ohne jeden Grund Deutsch gelernt. Wenn das nur wahr wäre. Ich möchte, dass das wahr ist - oder irgend einmal wahr wird, denn vorläufig verhält sich das noch ein bisschen verkrampfter. In jener Gegend gab es vor dem Krieg grosse deutsche Sprachminderheiten, die Karpatendeutschen. Ihre Geschichte ist wie alle Geschichte nicht nur sauber. Und die Schule wird inzwischen finanziert von der Bundesrepublik - wie auch immer, das sei deutlich gesagt, Schulen finanzieren ist etwas Gutes -nur, deutsche Schulen sind eben auch gute Schulen, und selbst in der armen Slowakei gibt es Ärmere und Reichere. Und die bilinguale Schule ist nicht die Schule der mausarmen deutschen Sprachminderheit, die es auch kaum mehr gibt, sondern die Schule jener, die in eine gute Schule gehen und sie auch bezahlen können. Sie machen dort das deutsche Abitur. Letztlich sind sie in einer guten Schule und nehmen das Deutsch in Kauf. Das ist kompliziert, ich weiss es, und ich lasse es so hier stehen.

Ich meine nur, es sind die Hintergedanken, die die Gedanken desavouieren. Wenn Ihre Idee einer multilingualen Schule nicht mehr ist als ein neuer Trick, die beschämende Sprachsituation der Schweiz ein bisschen zu reparieren, dann kann man sie auch gleich lassen.

Wir brauchen keine neuen Tricks mehr, endlich dem Volk Deutsch und Italienisch und Französisch beizubringen. Wir haben doch genug Erfahrung darin, dass die vielen alten Tricks auch nicht geholfen haben.

In der Beiz sitzen zwanzig, dreissig junge Leute - sie sind oft hier. Sie haben ein einziges Thema - Autos - und sie haben wunderschöne, aufgetakelte Freundinnen. Man nennt sie abschätzig Italos und meint damit Zweitgene-rations-Italienerinnen und -Italiener. Sie lieben es, hier Italienisch zu sprechen. Eigentlich ist es ihre Sprache nicht. Es ist die Sprache ihrer Eltern. Eine zweite Sprache haben sie hier auf der Strasse gelernt, und die Strasse hier ist deutsch. Aber sie beherrschen die Sprache ihrer Eltern perfekt, und sie fallen, ohne dass sie es merken immer wieder in die andere Sprache, das Schweizerdeutsche. Eigenartig ist nur, dass die meisten der hier Sitzenden wohl in unserer Schule gescheitert sind. Dass ihre Ein-Sprachigkeit ("Ein" gross geschrieben) kein Vorteil war in der Schule, in der sie waren. Dass es in der Schweizer Schule kein Vorteil für sie war, zwei schweizerische Landessprachen perfekt zu beherrschen.

Ich frage mich ernsthaft, ob ihre Einsprachigkeit denn ein Vorteil für sie wäre in der multilingualen Schule. Ich möchte gern, dass Sie die Frage beantworten. Aber ich beantworte sie selbst:

Leider nein. Denn was auch immer geschieht mit Schule, wie gut sie auch immer ist und werden wird, die Gesellschaft wird von ihr nie Bildung wollen, sondern nur Selektion und Auszeichnung und im besten Falle Ausbildung - und diese (Entschuldigung) "Italos" gehören ausselektioniert. Diese Vorstellung der Gesellschaft setzt sich durch, ohne dass die Schule dagegen etwas tun kann. Abgesehen davon, dass die Schule hilflos wird, wenn die Schüler etwas bereits können. Sie lebt davon, dass das Lernen mühsam ist. Wäre Sprachenlernen keine Mühe, dann hätte Sprachenlernen in der Schule gar nichts zu suchen. Denn in der Schule hat man das Arbeiten zu lernen und nicht die Sache.

Aber noch mal zurück zu diesen Zweit- und Drittgene-rations-Italienerinnen. Sie sprechen die Sprache ihrer Eltern perfekt, aber Italienisch ist nicht ihre Muttersprache, ist nicht ihre Sprache. Mit ihrem Deutsch verhält es sich gleich. Sie sind nicht zweisprachig aufgewachsen, wie das vielen anderen Einzelnen auch geschieht - eine englische Mutter, ein französischer Vater, der mit seiner Familie in Spanien lebt - sondern diese (noch einmal Entschuldigung) Italos sprechen die Sprache "Italienisch und Deutsch". Das ist ihre Sprache geworden. Ihre Sprachsituation ist eine gemeinsame - noch viele Gleichaltrige leben hier in dieser Sprache. Sie können sich in dieser Sprache gemeinsam unterhalten. Der dauernde Sprachwechsel amüsiert sie, ist Rollenspiel. Im übrigen, sie sind viel eher Svizzeros als Italos. Denn unsere Gegend hat die Voraussetzung für Ihre Ein-sprachigkeit geschaffen. Die Sprache "Svizzero", die nicht eine Mischsprache ist, sondern eine Doppelsprache, hat sich für sie als gemeinsame Sprache eingestellt.

Sprachen lernen ist ein Unsinn, denn Sprache muss sich einstellen. Sie stellt sich ein durch Notwendigkeit - ich will mit meinem ägyptischen Feuerwehrmann freundlich sein - oder sie stellt sich ein, weil ich das will, dringend will und weil ich mich dringend darum bemühe. Sprache kann nicht gemacht und sie kann nicht verordnet werden, sie muss sich einstellen. Die multilinguale Ein-sprachige Schule ("Ein" bitte gross geschrieben) wäre eine Chance, aber sie müsste mehr überwinden als nur heutige Gepflogenheiten des Fremdsprachenunterrichts. Die Problemstellung ihrer Arbeitsgemeinschaft ist ein in Frage stellen der Schule -als Leistungs- und Selektionsschule - an und für sich. Die Svizzeros sprechen nur eine Sprache, ihre zweisprachige und eine Sprache. Eine dritte wäre für sie kein Problem und eine vierte auch nicht. Aber - noch einmal - sie sind in unserer Schule gescheitert, und - noch einmal - ich stelle Ihnen die Frage, ob sie die Absicht haben, sie in Ihrer Schule nicht scheitern zu lassen, denn Ihre Schule wäre nach meiner Vorstellung eine Ein-sprachige Schule, und ich wäre jedenfalls glücklich, wenn Schweizer Touristen meinem Barkeeper in New York dereinst mal beibringen würden, dass die Schweiz ein Ein-sprachiges Land ist, und wenn mich dann der Barkeeper nicht nach dem Namen der vierten Sprache fragen würde, sondern nach dem eigenartigen Umstand, dass in der Schweiz EIN-sprachig gross geschrieben wird.

Oder dann die Geschichte - auch eine schweizerische, denn die Schweiz ist längst nicht mehr viersprachig, hier wird auch Türkisch gesprochen und Spanisch und Galizisch und Serbokroatisch, auch wenn diese Sprache nicht mehr so heissen will - die Geschichte also, die mir kürzlich ein Freund erzählt hat:

Sein Schwiegervater ist Spanier und er arbeitet als Maurer in der Schweiz. Er ist sehr stolz darauf, dass er Italienisch kann, nämlich perfekt, weil auf dem Bau auch viele Italiener sind. So geht denn der Schwiegervater auch gern mit in die Ferien nach Italien. Dort setzt er sich stolz ins Restaurant und bestellt auf italienisch. Dann kriegt er eine grosse Wut auf ganz Italien, weil die italienischen Kellner kein Italienisch verstehen. Seinen italienischen Kollegen auf dem Bau wird es in Spanien genauso gehen, und dem Schweizer Maurer in beiden Ländern wohl auch. Was er gelernt hat auf dem Bau war durchaus perfektes Italienisch, das perfekte Italienisch des Baus. Es hatte sich dort zwischen Italienern und Spaniern Sprache eingestellt. Das ist nicht für nichts, das dient der Kommunikation. Und das ist wirklich Italienisch, eine Form des Italienischen, die im übrigen keine schlechte Voraussetzung dafür wäre, das zentrale Italienisch zu lernen. Was für ein Italienisch er auch kann - er kann ganz sicher ein besseres als ich.

In dem Brief der Schüler der Scuola di Barbiana an ihre ehemalige Lehrerin steht folgendes dazu:

"Übrigens müsste man sich erst einigen, was man unter korrekter Sprache versteht. Die Sprachen werden von den Armen geschaffen, die sie dann immer wieder weiterbilden und erneuern. Die Reichen hingegen legen sie fest, um jene verspotten zu können, die nicht so sprechen wie sie. Oder um sie durchfallen zu lassen.

Ihr sagt, dass Pierino, der Sohn des Doktors gutschreibt. Klar, er spricht wie Ihr. Er gehört gewissermassen zur ' Firma. Die Sprache aber, die Gianni spricht und schreibt, ist jene seines Vaters. Als Gianni klein war, nannte er das Radio "lalla". Und der Vater meinte, ernsthaft: "Man sagt nicht "lalla", man sagt der "aradio".

Nun mag es gut sein, dass Gianni auch lernt, Radio zu sagen. Eure Sprache könnte ihm nützlich sein. Aber inzwischen könnt ihr ihn nicht aus der Schule vertreiben. "Alle Bürger sind gleich, ohne Unterschied der Sprache" So hat es die italienische Verfassung bestimmt, und dabei an ihn gedacht." (3)

Und selbst der Begriff Muttersprache / Vatersprache hat seine Fraglichkeit. Meine Enkelin in Zürich, Tochter einer Mutter aus Solothurn und eines Vaters aus Basel spricht fast von Anfang an die Sprache der Gegend: Zürichdeutsch. Das ist für niemanden beleidigend und das ist selbstverständlich: Sprache wird nicht übertragen, sie stellt sich ein. Auch Mundartpflege - die schöne, gute, alte Mundart - hat rassistische Merkmale. Sprachveränderungen sind Sprachbereicherungen und nicht Sprach Verarmungen. Es hat seine Gründe, dass wir in unseren schweizerdeutschen Mundarten mehr und mehr die neuhochdeutschen Wörter - ins alemannische umgelautet - vorziehen. Wir leben schon länger etwas neuhochdeutscher, und meine 5jährige Enkelin spricht ein wunderbares Hochdeutsch, stellt ihren Kehlkopf dabei etwas anders und hat ihren Riesenspass an der perfekten Imitation. Dazu ist sie von niemandem angeleitet worden, sie hat es nur am Fernsehen gehört, es hat sie amüsiert, sie fand es komisch und lustig. Ihr Lehrer in der Schule wird das dann wohl nicht akzeptieren, schade.

Denn Rollenspiel gilt bei uns als unanständig, als äffig. Das mag mit ein Grund sein, dass den Deutschschweizern Sprache an und für sich - nämlich auch die eigene -schwer fällt. Sprache ist immer Nachahmung, ist Rollenspiel. Sprache ist witzig und gewitzt. Sollte das der Schweizer in Rotterdam gewusst haben - aber eben, er war ein Deutschschweizer - sollte er es trotzdem gewusst haben, der Kapitän wäre zu seinem Paket gekommen. In Norwegen war ich an einer Buchmesse. Es gab dort abends eine Lesung eines irakischen Poeten, der zu meiner Überraschung seine Lyrik nicht pathetisch, sondern ganz pragmatisch vortrug und mich damit überzeugte, dass seine Sprache eine Sprache ist. Im Publikum verstand wohl niemand irakisch. Trotzdem unterstrich der Poet seine Lyrik mit grossen, erklärenden Gesten. Sein Übersetzer trug die norwegische Übersetzung vor. Ich verstand beides nicht, und das gab mir ein Erlebnis, das den Norwegern verschlossen blieb, das wunderbare Erlebnis von zwei Sprachen im Dialog. Nicht zwei Fremdsprachen, sondern zwei Eigensprachen, und als solche waren sie mir nicht mehr fremd und auch nicht mehr sehr verschieden. Es gibt nur Eine Sprache.

Das hätte man mir zur rechten Zeit beibringen sollen oder ich hätte zur rechten Zeit selbst darauf kommen sollen. Schon nur der Hinweis, dass Sprachen einfach sind, und dass jede Sprache nichts anderes ist als eine Form der menschlichen Sprache, nicht etwas Fremdes, sondern etwas sehr eigenes, das Menschliche. Ich habe Norwegisch und Irakisch als zwei Formen der einen Sprache erlebt. Verstanden habe ich wirklich nichts, aber ich habe gerade deshalb verstanden, dass hier zwei Menschen sprechen - annähernd dasselbe in zwei Formen.

Ich weiss, ich bin ein Schwärmer, und ich weiss, dass das, was ich mir wünschte, auch die mehrsprachige Schule nicht wird leisten können - aus dem einzigen Grund, weil sie sich in irgendeiner Form als nützlich darzustellen hat - etwa so wie die Schule in Poprad in Slowakien für Söhne und Töchter aus dem mittleren und höheren Management ihre Nützlichkeit hat.

Ich meine das nicht als Miesmacherei. Ein Anfang ist immerhin ein Anfang. Und immerhin heisst Ihr Projekt nicht "fremdsprachiger Unterricht" sondern "mehrsprachiger". Denn ich bin eigentlich fast sicher, dass die Kenntnisse von Fremdsprachen nationale Schranken nicht abbauen können - es gibt Rassisten, die mehrsprachig sind. Etwas anderes aber, davon bin ich überzeugt, kann Rassismus wirklich abbauen, die Bildung, die Lust an der Bildung.

Übrigens, das Wort "mies" - ein durch und durch deutsches Wort - (Miesmacherei), so sagt mir mein Duden, kommt aus dem Hebräischen. Das erinnert mich an Rosenzweig. Die Sprachen müssen früher einmal viel näher zusammengelebt haben - damals als die Menschen noch nicht so nahe zusammen wohnten. Wörter haben eine Herkunft. Das sollte Sprachreinigern zu denken eben, aber sie haben ohnehin nicht Sprache im Sinn, sondern Nationalismus. Und ich erinnere mich an jenen koptischen Wissenschaftler, den ich damals in Kairo traf. Er lebte mit Schreibverbot, mit Existenzverbot sozusagen. Er hatte das erste grosse Standardwerk geschrieben über die Etymologie der arabischen Sprache. Man hatte ihn dafür eingesperrt, man hatte ihn dafür gefoltert, denn, so sagten seine Gegner, die arabische Sprache hat keine Herkunft, sie kommt von Gott. So jedenfalls möchte ich das grossgeschriebene "Eine", es gibt nur Eine Sprache, nicht verstanden haben. Die Sprache kommt von den Menschen und sie verändert und bereichert sich durch Gebrauch, durch bewussten Gebrauch - als Beispiel die Sprachbemühungen der Feministinnen, die mir einleuchten - und durch fahrlässigen Gebrauch auch.

Gebt die Sprachen endlich frei zum Gebrauch, holt dieses verfluchte Sonntagsgeschirr aus den Schränken und lasst uns darauf tafeln - ohne Furcht, dass es dabei zu Brüchen gehen könnte. "Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen", hat Jean Paul 1807 in seiner Erziehlehre, der "Levana", geschrieben. Er - der Vielsprachige und Sprachgewandte - hat damit nicht etwa nur die deutsche Sprache gemeint - sondern Sprache an und für sich. Darf ich es wiederholen: "Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen." (4)

Das meinte ich zu Beginn: Bis jetzt waren Sie Fremdsprachenlehrerinnen, in der neuen Schule könnten Sie Sprachlehrer werden, denn, zum dritten Mal, Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen. Und es gibt nur Eine Sprache. Und wenn mich nun die fleissigen und die faulen unter Ihnen fragen würden, welche Sprachen sie dafür zu beherrschen hätten, dann ist die Antwort: Nur eine, nur die Eine. Und sollte Ihnen das zu wenig sein - Jakobson lässt grüssen.

Darf ich enden mit einer Bemerkung in eigener Sache. Es ist mir heute zum ersten Mal gelungen, über das Thema Sprache nachzudenken, ohne dabei dauernd über meine mangelnden Fremdsprachenkenntnisse zu lamentieren. Dafür bin ich mir dankbar, und ich danke auch meinem Freund Klaus Reichert, dem ich diesen Vortrag widmen möchte, denn er hat mir mit seiner kleinen Schrift über Rosenzweig und Buber "Zeit ist's" die Augen geöffnet für etwas ganz Einfaches, dass Sprache Sprache ist und nicht Fremdsprache.

Als ich vor 15 Jahren vor einem ähnlichen Kreis über meine "Erfahrungen beim Fremdsprachen lernen" (5) sprach, gefiel ich mir noch in einem grossen Lamento.

Trotzdem - lassen sie mich meinen Vortrag mit dem gleichen Lamento schliessen wie damals. Ich zitiere mich selbst und lese Ihnen den Schluss meiner Geschichte "Hugo" (6) vor:

"... doch seine Geschichte ist eine andere. Habe ich Ihnen schon erzählt, wie still und leise man mit ihm trinken konnte? Und ich will Ihnen auch nicht verschweigen, dass aus ihm selbstverständlich etwas geworden ist Denn das ist eine Geschichte, und in Geschichten wird man etwas.

Er könnte zum Beispiel nach seiner Lehre - vier Jahre -die Matura nachgeholt haben, in einem katholischen Internat, er könnte eine Leidenschaft für die uralten Bücher in Pergament entwickelt und dabei an seine Tante gedacht haben, die blinde. Er könnte Fussball-schiedsrichter geworden sein, ein Spiel zwischen Real Madrid und dem Hamburger Sportverein geleitet haben, für ein umstrittenes Tor in die Schlagzeilen gekommen sein, oder er könnte nach seiner Lehre nichts anderes mehr getan haben als Fremdsprachen gelernt, Albanisch und Kurdisch und Aramäisch, Haussa und Altslawisch, Gälisch und Katalanisch - Französisch nicht.

Doch seine Geschichte ist das nicht Es ist meine Geschichte, ich habe ihn überlebt, und ich sitze jetzt allein in der Kneipe und vermisse in der Stille und im Lärm seine Stille.

Was aus ihm geworden ist? Ein toter Mann, und ich stand an seinem Grab und dachte mir, da unten liegt es, sein Albanisch und sein Gälisch.

Da unten liegt sie, seine Stille, und vermodert."

Rede gehalten von Dr. h.c. Peter Bichsel anlässlich der Gründung der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz.

Bibliographie

  1. "Die Schrift" verdeutscht von Martin Buber, gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1992
  2. Klaus Reichert, "Zeit ist's. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext." Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1993, S.12
  3. "Scuola di Barbiana. Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin." Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1970, S.34
  4. Jean Paul, "Levana oder Erziehlehre" in J.P. Sämtliche Werke, Bd. 1/5, München: Carl Hanser Verlag, 1987 (ich verzichte auf eine Seitenangabe, weil ich Leser suche - unter Lehrern auch - für die ganze Levana von Jean Paul)
  5. "Didaktik und Methodik des Französischunterrichts vom 475. Schuljahr an", Bern: Informationsbulletin EDK 24/1980, S. 77-89 und Peter Bichsel, "Schul-meistereien", Hamburg: Sammlung Luchterhand, 1987, S.52ff.
  6. Peter Bichsel, "Zur Stadt Paris", Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1993, S.82f.

The founding text

Peter Bichsel: Es gibt nur Eine Sprache

(für Klaus Reichert)

Meine Damen, meine Herren,

Ich gratuliere Ihnen zu der Gründung Ihrer Arbeitsge-meinschaft, was Sie hier machen, das ist tapfer und selbstlos. Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer sind - mit der Gründung Ihrer Arbeitsgemeinschaft geben Sie zu, dass ein französisch sprechender Chemielehrer ein besserer Französischlehrer ist und eine deutschsprechende Turnlehrerin eine bessere Deutschlehrerin. Sie haben sich heute selbst abgeschafft - mein Kompliment.

Doch Sie wissen, dass es erstens so schlimm nicht werden wird, Arbeitsgemeinschaften werden ja in der Regel nicht gegründet, um erfolgreich zu sein, sondern nur um da zu sein. Das ist nicht Nichts. Da-sein ist schon etwas. Und zweitens würden Sie wohl nur als Fremdsprachenlehrerinnen abgeschafft und nicht als Sprachlehrer, denn Sprache lernen (und lehren) ist etwas Anderes als Fremdsprache lernen.

Fremdsprache ist ein eigenartiger Begriff. Auf der ganzen Welt werden ausschliesslich nur Fremdsprachen gesprochen - ausser bei uns. Wir - wer wir auch immer sind - sprechen eine Sprache, alle anderen sprechen Fremdsprachen.

Der Bartender in New York weiss von unserem Land nicht nur die Sache mit den Kühen, den Bergen und den Uhren, sondern er weiss auch, dass die Schweiz viersprachig ist - nein, nicht drei, sondern vier, er legt Wert darauf- und er fragt mich nach dem Namen der vierten.

Mir ist das jedes Mal peinlich - ich kann zum Beispiel, um für einmal zu untertreiben - kein Romanisch. Und ich lebe nicht in einer viersprachigen Schweiz, sondern in einem Land, in dem meine eigene Sprache eine Fremdsprache ist. Meine Miteidgenossen, Schweizer Touristen, haben meinem Bartender einen Bären aufgebunden. Sie haben ihm erklärt, dass die Schweiz viersprachig ist - dabei ist sie einsprachig wie jede andere Gegend der Welt. Französisch ist auch hier eine Fremdsprache und Deutsch auch. Es liegt ein Stück Arroganz in der Geschichte der Viersprachigkeit, von der wir Bartendern in der ganzen Welt erzählen. Denn wenn die Schweiz viersprachig ist, dann sind es eben wir Schweizer auch. Wir Schweizer sind mitunter überzeugt davon, dass wir die einzigen sind, die Fremdsprachen beherrschen - die Deutschen jedenfalls nicht und die Engländer auch nicht. Wir glauben, sozusagen, dass Viersprachigkeit so etwas wie ein Kollektivbesitz ist - ich Schweizer spreche die vier Sprachen zwar nicht, aber wir Schweizer schon.

Es gibt Menschen, die eine Sprache sprechen, und es gibt Menschen die Fremdsprachen sprechen. Jene, die Fremdsprachen sprechen sind die anderen. Die sind auch ganz anders, die haben viel mehr Temperament, sind oberflächlicher oder tiefgründiger oder haben gar eine slawische Seele oder die Schwermut der Portugiesen. Die Mitte jedenfalls sind wir - bin ich - wer traurig ist, der ist trauriger als ich, wer fröhlich ist, der ist fröhlicher als ich. Fremd (Fremdsprache) kann besser oder schlechter heissen. Gleich kann es nicht heissen. Gleich sind nur wir, bin nur ich.

Meine Damen, meine Herren, ich war kürzlich in Norwegen. Wissen Sie, dass die Norweger nicht wie Norweger aussehen, sondern wie wir? In der Slowakei war ich auch - ein verlorenes, vergessenes Land - auch die Slowaken sehen nicht aus wie Slowaken. Sie haben zwei Beine, zwei Ohren, zwei Augen und eine Stimme, die selbe Stimme wie wir, mit der man sprechen kann. Und wenn sie wütend sind, kann ich das an ihrem Tonfall erkennen, und wenn sie zärtlich sind, auch und auch wenn sie bitten und wenn sie befehlen.

Und wir hätten uns anzugewöhnen, die Auffächerung dieser einen Sprache, die mit Kehlkopf, Zunge und Lippen gebildet wird, als Sprachen zu bezeichnen und nicht als Fremdsprachen.

Dies alles nur zur Begrüssung. Und jetzt versuche ich zu beginnen. Für mich - nur für mich - beginnt Sprache mit der Luther-Übersetzung der Bibel. Die deutsche, die neuhochdeutsche Sprache, hat ihren Ursprung in einer Übersetzung. Sie wäre aus sich selbst heraus nicht entstanden. Sie stammt aus dem Latein der Vulgata so sehr wie aus dem Hebräischen, von dem Melanchton dem Luther eindringlich erzählte, und sie stammt aus dem Mittelhochdeutschen, nicht einfach nur durch etymologische Zufälle, sondern durch den kräftigen Willen Luthers, zu übersetzen.

Also ganz von Anfang an:

"Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser." (1)

Nein, Luther ist das nicht, und trotzdem, es ist die Sprache Luthers, die kräftige Sprache Luthers: Deutsch. Hergestellt aus den Übersetzungsschwierigkeiten - nein, Übersetzungsfreuden - aus dem Hebräischen von Martin Buber und Franz Rosenzweig, 1926. Den Satz "Es gibt nur Eine Sprache" - und "Eine" gross geschrieben wie das "Er" im Sinne von Gott - den Satz habe ich von Franz Rosenzweig, der in seinem Nachwort zu einer Übersetzung von Juda Halevi, dem grossen jüdisch-spanischen Dichter aus dem 12. Jahrhundert, schrieb: "Es gibt nur Eine Sprache. Es gibt keine Spracheigentümlichkeiten der einen, die sich nicht, und sei es in Mundarten, Kinderstuben, Standeseigenheiten, in jeder anderen keimhaft nachweisen Hesse." (2) Buber und Rosenzweig wollten erstens eine Bibel schaffen, in der deutsche Juden auf deutsch Hebräisch lesen und verstehen können, und sie wollten zweitens in die deutsche Sprache und Kultur ein Stück Hebräisch einbringen. Sie wollten - letztlich - dasselbe wie Luther noch einmal, und noch einmal so neu und überraschend wie Luther damals war.

Es gibt nur Eine Sprache, das heisst letztlich auch: Es gibt keine Fremdsprachen. Und es gibt Beispiele genug dafür, dass Fremdsprachenkenntnisse den Rassismus nicht überwinden können. Eichmann zum Beispiel konnte Jiddisch. Und ich hörte kürzlich von einem Schweizer, der mehrere Fremdsprachen spricht, darunter sehr entfernte asiatische Sprachen, und der sich inzwischen der Neonaziszene angeschlossen hat und mit Vehemenz Auschwitzlügen-Pamphlete schreibt. Was er kann, das sind offensichtlich nur Fremdsprachen und nicht andere Sprachen.

Das ist der grosse Vorteil der anderen Sprachen, dass sie übersetzbar sind - immer wieder übersetzbar sind. Keine Sprache der Welt würde überleben ohne die anderen. Sprache ist erst beim Turmbau zu Babel entstanden. Denn Sprache entsteht nur durch Sprachen, und ohne Sprachen gibt es keine Sprache.

Der grosse Nachteil der eigenen Sprache ist ihre Unübersetzbarkeit. Sie ist so letztlich nicht interpretierbar, also letztlich nicht reflektierbar.

Ich fürchte mich selbst vor dem, was mir hier einfällt -also einfacher.

Und ich beginne - jetzt endlich - mit einer Geschichte:

Vor einem grossen Schiff im Hafen von Rotterdam steht ein Schweizer mit einem kleinen Paket in der Hand. Oben an der Reling steht ein Matrose. Und der Schwei¬zer ruft ihm zu: "He Sie, chönteder das Päckli am Kapitän gäh" ("Könnten Sie dieses Paket dem Kapitän geben"). Der Matrose rührt sich nicht. "He", ruft der Schweizer, "chönteder das Päckli am Kapitän gäh" und als der Matrose wieder nicht reagiert, ruft der Schweizer nach langem Nachdenken: "Français - parlez vous français." Keine Reaktion. "Englisch", ruft der Schweizer. Nichts. "Oder italiänisch - Italiano". Der Matrose hängt immer noch still über die Reling. "Spanisch - Spanien - Español", ruft der Schweizer. Und jetzt endlich die Antwort: "Sí, señor, sí señor, habla español." "Also", ruft der Schweizer erleichtert, "chönteder das Päckli am Kapitän gäh."

Ein Witz - aber in diesem Falle meine ich es als Geschichte. Sie endet - das ist der Witz der Witze - zu früh. Denn die Frage der Geschichte - nicht des Witzes - ist, ob das Paket den Kapitän erreicht hat. Ich würde annehmen, ja. Denn wenn die beiden sich auch nicht wirklich verständigen konnten; sie haben mit einem einzigen spanischen Wort "español" sprachlichen Kontakt gefunden. Der Matrose hatte endlich eine Stimme. Der Kontakt war hergestellt. Sie hatten jetzt nur noch eine Sprache zu finden, irgendeine selbstgemachte Sprache, mit der sie das Problem bewältigen. Ich bin sicher, der Kapitän kriegt das Paket.

Ich denke an meinen grossen sprachlichen Schrecken auf dem Bahnhof von Assuan in Ägypten. Ich war mit dem Zug von Kairo nach Assuan gefahren, ein wunderbarer Luxuszug mit Schlafwagen. Mein Nachbar im Schlafwagenabteil war ein Feuerwehrmann aus Kairo - ein Feuerwehroffizier. Er fuhr für drei Tage zu einem Kongress über Brandbekämpfung in Assuan. Er sah nicht aus wie ein Offizier, ein sehr einfacher, freundlicher Mann. Ich erzählte ihm, ich sei Schriftsteller. Er selbst hatte einen Stapel von arabischen Büchern mit sich. Er lese nur religiöse Bücher, aber er lese viel, erklärte er mir. Kurz vor Assuan verabschiedeten wir uns. Wir waren gern miteinander gefahren. Die Verabschiedung war schwierig und umständlich. Nun stand ich also im Bahnhof von Assuan - alleingelassen mit meinem Schrecken, der Schrecken darüber, verstanden zu haben (der Schrecken von Moses, Gott verstanden zu haben - Gott, den unverständlichen), denn erst jetzt auf dem Bahnsteig fiel mir ein, dass ich nur ein Wort in Arabisch kenne - schukran - dankeschön - und dass er kein Wort englisch konnte. Aber ich war ganz sicher, dass er zu einem Feuerwehrkongress nach Assuan fuhr, und einer seiner Söhne war Arzt. Nur hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie wir uns das mitgeteilt hatten. Ich erinnere mich an keine Gesten, ich erinnere mich an keine Laute. Das einzige, was ich wusste, ist, dass ich es wusste. So mag es Mose ergangen sein, als er mit den Gebotstafeln im Tal ankam. Vielleicht hat er sie deshalb in seinem Schrecken zerschlagen.

Ich weiss nicht, wie wir uns verständigten. Das einzige, was ich weiss, ist, dass sich Sprache eingestellt hatte. Sprachen stellen sich ein. Zwei Menschen von irgendwo her, die sich irgendwo, zum Beispiel in einer Notsituation - Verliebtheit zum Beispiel - treffen, werden sich verstehen, weil sich Sprache einstellen wird - das Rosen-zweigsche "Es gibt nur Eine Sprache".

Eine andere Geschichte, eine wahre. Ich hatte das grosse Glück, den grossen Strukturalisten Roman Jakobson zu treffen. Wir blödelten eine ganze Nacht zusammen, und eine anwesende Germanistin hatte mit ihm Ernsthaftes im Sinn und ihren Ärger mit uns. Roman Jakobson wusste nicht, wieviele Sprachen er konnte, und es ging die Legende um, dass er alle kann. Ich wollte wissen, welches seine Muttersprache sei. Er wusste es nicht. Ich fragte ihn, in welcher Sprache er einen zähnefletschenden Hund beruhige. Er wusste es nicht. Und auf meine Frage, wieviele Sprachen er denn eigentlich - schätzungsweise - könne, sagte er: "Perfekt nur eine, die indogermanische." Ich hielt auch das immer für eine witzige Bemerkung bis ich auf das Zitat von Rosenzweig stiess: Es gibt nur Eine Sprache. So muss das Jakobson gemeint haben als er sagte: "Eigentlich kann ich nur eine."

Auf die Frage: "Wie lernt man Sprachen", auf die Fragen: "In welcher Sprache träumen Sie", "In welcher Sprache denken Sie", wusste er keine Antwort. Ich glaube, inzwischen kenne ich die Antwort: Eben in der Einen Sprache, in der Sprache der Menschen, die mit Kehlkopf, Zunge und Lippen hergestellt wird.

Denn daran erinnere ich mich. Wir haben gesprochen miteinander, der Feuerwehrmann und ich - mit Lippen und Zungen und Kehlkopf. Es hatte sich Sprache eingestellt. Und diesmal nicht einmal aus Not, nur aus Freundlichkeit. Diese Sprache hat auch einen Namen: Es ist die Sprache der Menschen.

Den Erfindern von künstlichen Weltsprachen - Esperanto zum Beispiel - muss das unbekannt gewesen sein, dass es nur Eine Sprache gibt.

Es gibt inzwischen eine Sprache, die wir Weltsprache nennen. Und wir bezeichnen diese Sprache als Englisch, zwar fälschlicherweise, aber die Angelsachsen, vor allem die Amerikaner, sind grosszügig genug, gegen diese Bezeichnung - Englisch - nicht Einspruch zu erheben. Ich kann sie einigermassen. Mein Sohn kann sie perfekt - ohne je in England oder Amerika gewesen zu sein, ohne je Unterricht oder Selbstunterricht genommen zu haben.

Die Sprache hat sich bei ihm eingestellt - nicht etwa das Englische oder das Amerikanische - sondern "nur" die Weltsprache, die nicht nur zufälligerweise auch Englisch heisst. Diese Weltsprache Englisch ist eine total brauchbare Sprache, brauchbar auch für Persönliches und Intimes und Poetisches. Sie orientiert sich übrigens immer wieder am Original und führt auch nach und nach auf das Original, das Englische, zu. Es gibt auch Leute - Hotelangestellte zum Beispiel - die beide Sprachen beherrschen, das Weltenglisch und das nationale Englisch, die also mit dem Amerikaner und mit mir nicht in genau derselben Sprache sprechen.

Wenn ein junger Norweger, ein junger Portugiese, ein junger Tscheche und ein junger Amerikaner zusammen sind, dann werden sie sich in dieser Sprache unterhalten - und der einzige, der sie vorerst zu lernen hat, wird der Amerikaner sein. Er wird es leicht haben - etwa so leicht wie einem Alemannen das Neuhochdeutsche fällt - denn die Weltsprache des Portugiesen ist abgeleitet von der Muttersprache des Amerikaners. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch das Pidgin-English, eine Behelfssprache aus dem 17./18. Jahrhundert mit einem minimalen englischen Wortschatz und chinesischer Lautung, Wort-bildung und Syntax. Für einen Engländer war es wohl wesentlich schwerer, sie zu lernen als für einen Chinesen. Also schon damals eine grosszügige Leistung der Engländer, wenn auch nicht eine uneigennützige, sie wollten Handel treiben. Aber selbst die sprachprüden noblen Engländer zogen Verständigung der Reinerhaltung der Sprache vor.

Die Klage der Franzosen darüber, dass das Französische als Weltsprache verschwunden ist, ist verständlich und berechtigt. Vielleicht wäre Französisch als Weltsprache sogar geeigneter gewesen. Französisch hatte aber einen gravierenden Nachteil: Die Franzosen waren nicht bereit, ihre Sprache dafür zur Verfügung, zur freien Verfügung zu stellen, sie dafür freizugeben. Den Richtern des französischen Verfassungsgerichts sei jedenfalls herzlich gedankt dafür, dass sie der endgültigen Beseitigung, nämlich Isolierung, der französischen Sprache Einhalt geboten und das sprachrassistische Gesetz wieder einzogen - denn Sprache kommt von Sprachen, und ohne Sprachen gibt es keine Sprache.

In der multilingualen Schule jedenfalls - davon bin ich überzeugt - haben Sprachreiniger nichts zu suchen. Mir jedenfalls könnte es gefallen, wenn man sie EIN-sprachige Schulen nennen würde. ("EIN" gross geschrieben)

Vor zwei Monaten war ich als Gast in einem bilingualen Gymnasium in Poprad in der Slowakei. Der Unterricht findet dort in Deutsch und Slowakisch statt, und das Deutsch der Schüler war deutsch, dasselbe Deutsch wie meines. Poprad liegt in der kleinen Tatra, aus unserer Sicht also irgendwo. Ich war begeistert. Irgendwo wird ohne jeden Grund Deutsch gelernt. Wenn das nur wahr wäre. Ich möchte, dass das wahr ist - oder irgend einmal wahr wird, denn vorläufig verhält sich das noch ein bisschen verkrampfter. In jener Gegend gab es vor dem Krieg grosse deutsche Sprachminderheiten, die Karpatendeutschen. Ihre Geschichte ist wie alle Geschichte nicht nur sauber. Und die Schule wird inzwischen finanziert von der Bundesrepublik - wie auch immer, das sei deutlich gesagt, Schulen finanzieren ist etwas Gutes -nur, deutsche Schulen sind eben auch gute Schulen, und selbst in der armen Slowakei gibt es Ärmere und Reichere. Und die bilinguale Schule ist nicht die Schule der mausarmen deutschen Sprachminderheit, die es auch kaum mehr gibt, sondern die Schule jener, die in eine gute Schule gehen und sie auch bezahlen können. Sie machen dort das deutsche Abitur. Letztlich sind sie in einer guten Schule und nehmen das Deutsch in Kauf. Das ist kompliziert, ich weiss es, und ich lasse es so hier stehen.

Ich meine nur, es sind die Hintergedanken, die die Gedanken desavouieren. Wenn Ihre Idee einer multilingualen Schule nicht mehr ist als ein neuer Trick, die beschämende Sprachsituation der Schweiz ein bisschen zu reparieren, dann kann man sie auch gleich lassen.

Wir brauchen keine neuen Tricks mehr, endlich dem Volk Deutsch und Italienisch und Französisch beizubringen. Wir haben doch genug Erfahrung darin, dass die vielen alten Tricks auch nicht geholfen haben.

In der Beiz sitzen zwanzig, dreissig junge Leute - sie sind oft hier. Sie haben ein einziges Thema - Autos - und sie haben wunderschöne, aufgetakelte Freundinnen. Man nennt sie abschätzig Italos und meint damit Zweitgene-rations-Italienerinnen und -Italiener. Sie lieben es, hier Italienisch zu sprechen. Eigentlich ist es ihre Sprache nicht. Es ist die Sprache ihrer Eltern. Eine zweite Sprache haben sie hier auf der Strasse gelernt, und die Strasse hier ist deutsch. Aber sie beherrschen die Sprache ihrer Eltern perfekt, und sie fallen, ohne dass sie es merken immer wieder in die andere Sprache, das Schweizerdeutsche. Eigenartig ist nur, dass die meisten der hier Sitzenden wohl in unserer Schule gescheitert sind. Dass ihre Ein-Sprachigkeit ("Ein" gross geschrieben) kein Vorteil war in der Schule, in der sie waren. Dass es in der Schweizer Schule kein Vorteil für sie war, zwei schweizerische Landessprachen perfekt zu beherrschen.

Ich frage mich ernsthaft, ob ihre Einsprachigkeit denn ein Vorteil für sie wäre in der multilingualen Schule. Ich möchte gern, dass Sie die Frage beantworten. Aber ich beantworte sie selbst:

Leider nein. Denn was auch immer geschieht mit Schule, wie gut sie auch immer ist und werden wird, die Gesellschaft wird von ihr nie Bildung wollen, sondern nur Selektion und Auszeichnung und im besten Falle Ausbildung - und diese (Entschuldigung) "Italos" gehören ausselektioniert. Diese Vorstellung der Gesellschaft setzt sich durch, ohne dass die Schule dagegen etwas tun kann. Abgesehen davon, dass die Schule hilflos wird, wenn die Schüler etwas bereits können. Sie lebt davon, dass das Lernen mühsam ist. Wäre Sprachenlernen keine Mühe, dann hätte Sprachenlernen in der Schule gar nichts zu suchen. Denn in der Schule hat man das Arbeiten zu lernen und nicht die Sache.

Aber noch mal zurück zu diesen Zweit- und Drittgene-rations-Italienerinnen. Sie sprechen die Sprache ihrer Eltern perfekt, aber Italienisch ist nicht ihre Muttersprache, ist nicht ihre Sprache. Mit ihrem Deutsch verhält es sich gleich. Sie sind nicht zweisprachig aufgewachsen, wie das vielen anderen Einzelnen auch geschieht - eine englische Mutter, ein französischer Vater, der mit seiner Familie in Spanien lebt - sondern diese (noch einmal Entschuldigung) Italos sprechen die Sprache "Italienisch und Deutsch". Das ist ihre Sprache geworden. Ihre Sprachsituation ist eine gemeinsame - noch viele Gleichaltrige leben hier in dieser Sprache. Sie können sich in dieser Sprache gemeinsam unterhalten. Der dauernde Sprachwechsel amüsiert sie, ist Rollenspiel. Im übrigen, sie sind viel eher Svizzeros als Italos. Denn unsere Gegend hat die Voraussetzung für Ihre Ein-sprachigkeit geschaffen. Die Sprache "Svizzero", die nicht eine Mischsprache ist, sondern eine Doppelsprache, hat sich für sie als gemeinsame Sprache eingestellt.

Sprachen lernen ist ein Unsinn, denn Sprache muss sich einstellen. Sie stellt sich ein durch Notwendigkeit - ich will mit meinem ägyptischen Feuerwehrmann freundlich sein - oder sie stellt sich ein, weil ich das will, dringend will und weil ich mich dringend darum bemühe. Sprache kann nicht gemacht und sie kann nicht verordnet werden, sie muss sich einstellen. Die multilinguale Ein-sprachige Schule ("Ein" bitte gross geschrieben) wäre eine Chance, aber sie müsste mehr überwinden als nur heutige Gepflogenheiten des Fremdsprachenunterrichts. Die Problemstellung ihrer Arbeitsgemeinschaft ist ein in Frage stellen der Schule -als Leistungs- und Selektionsschule - an und für sich. Die Svizzeros sprechen nur eine Sprache, ihre zweisprachige und eine Sprache. Eine dritte wäre für sie kein Problem und eine vierte auch nicht. Aber - noch einmal - sie sind in unserer Schule gescheitert, und - noch einmal - ich stelle Ihnen die Frage, ob sie die Absicht haben, sie in Ihrer Schule nicht scheitern zu lassen, denn Ihre Schule wäre nach meiner Vorstellung eine Ein-sprachige Schule, und ich wäre jedenfalls glücklich, wenn Schweizer Touristen meinem Barkeeper in New York dereinst mal beibringen würden, dass die Schweiz ein Ein-sprachiges Land ist, und wenn mich dann der Barkeeper nicht nach dem Namen der vierten Sprache fragen würde, sondern nach dem eigenartigen Umstand, dass in der Schweiz EIN-sprachig gross geschrieben wird.

Oder dann die Geschichte - auch eine schweizerische, denn die Schweiz ist längst nicht mehr viersprachig, hier wird auch Türkisch gesprochen und Spanisch und Galizisch und Serbokroatisch, auch wenn diese Sprache nicht mehr so heissen will - die Geschichte also, die mir kürzlich ein Freund erzählt hat:

Sein Schwiegervater ist Spanier und er arbeitet als Maurer in der Schweiz. Er ist sehr stolz darauf, dass er Italienisch kann, nämlich perfekt, weil auf dem Bau auch viele Italiener sind. So geht denn der Schwiegervater auch gern mit in die Ferien nach Italien. Dort setzt er sich stolz ins Restaurant und bestellt auf italienisch. Dann kriegt er eine grosse Wut auf ganz Italien, weil die italienischen Kellner kein Italienisch verstehen. Seinen italienischen Kollegen auf dem Bau wird es in Spanien genauso gehen, und dem Schweizer Maurer in beiden Ländern wohl auch. Was er gelernt hat auf dem Bau war durchaus perfektes Italienisch, das perfekte Italienisch des Baus. Es hatte sich dort zwischen Italienern und Spaniern Sprache eingestellt. Das ist nicht für nichts, das dient der Kommunikation. Und das ist wirklich Italienisch, eine Form des Italienischen, die im übrigen keine schlechte Voraussetzung dafür wäre, das zentrale Italienisch zu lernen. Was für ein Italienisch er auch kann - er kann ganz sicher ein besseres als ich.

In dem Brief der Schüler der Scuola di Barbiana an ihre ehemalige Lehrerin steht folgendes dazu:

"Übrigens müsste man sich erst einigen, was man unter korrekter Sprache versteht. Die Sprachen werden von den Armen geschaffen, die sie dann immer wieder weiterbilden und erneuern. Die Reichen hingegen legen sie fest, um jene verspotten zu können, die nicht so sprechen wie sie. Oder um sie durchfallen zu lassen.

Ihr sagt, dass Pierino, der Sohn des Doktors gutschreibt. Klar, er spricht wie Ihr. Er gehört gewissermassen zur ' Firma. Die Sprache aber, die Gianni spricht und schreibt, ist jene seines Vaters. Als Gianni klein war, nannte er das Radio "lalla". Und der Vater meinte, ernsthaft: "Man sagt nicht "lalla", man sagt der "aradio".

Nun mag es gut sein, dass Gianni auch lernt, Radio zu sagen. Eure Sprache könnte ihm nützlich sein. Aber inzwischen könnt ihr ihn nicht aus der Schule vertreiben. "Alle Bürger sind gleich, ohne Unterschied der Sprache" So hat es die italienische Verfassung bestimmt, und dabei an ihn gedacht." (3)

Und selbst der Begriff Muttersprache / Vatersprache hat seine Fraglichkeit. Meine Enkelin in Zürich, Tochter einer Mutter aus Solothurn und eines Vaters aus Basel spricht fast von Anfang an die Sprache der Gegend: Zürichdeutsch. Das ist für niemanden beleidigend und das ist selbstverständlich: Sprache wird nicht übertragen, sie stellt sich ein. Auch Mundartpflege - die schöne, gute, alte Mundart - hat rassistische Merkmale. Sprachveränderungen sind Sprachbereicherungen und nicht Sprach Verarmungen. Es hat seine Gründe, dass wir in unseren schweizerdeutschen Mundarten mehr und mehr die neuhochdeutschen Wörter - ins alemannische umgelautet - vorziehen. Wir leben schon länger etwas neuhochdeutscher, und meine 5jährige Enkelin spricht ein wunderbares Hochdeutsch, stellt ihren Kehlkopf dabei etwas anders und hat ihren Riesenspass an der perfekten Imitation. Dazu ist sie von niemandem angeleitet worden, sie hat es nur am Fernsehen gehört, es hat sie amüsiert, sie fand es komisch und lustig. Ihr Lehrer in der Schule wird das dann wohl nicht akzeptieren, schade.

Denn Rollenspiel gilt bei uns als unanständig, als äffig. Das mag mit ein Grund sein, dass den Deutschschweizern Sprache an und für sich - nämlich auch die eigene -schwer fällt. Sprache ist immer Nachahmung, ist Rollenspiel. Sprache ist witzig und gewitzt. Sollte das der Schweizer in Rotterdam gewusst haben - aber eben, er war ein Deutschschweizer - sollte er es trotzdem gewusst haben, der Kapitän wäre zu seinem Paket gekommen. In Norwegen war ich an einer Buchmesse. Es gab dort abends eine Lesung eines irakischen Poeten, der zu meiner Überraschung seine Lyrik nicht pathetisch, sondern ganz pragmatisch vortrug und mich damit überzeugte, dass seine Sprache eine Sprache ist. Im Publikum verstand wohl niemand irakisch. Trotzdem unterstrich der Poet seine Lyrik mit grossen, erklärenden Gesten. Sein Übersetzer trug die norwegische Übersetzung vor. Ich verstand beides nicht, und das gab mir ein Erlebnis, das den Norwegern verschlossen blieb, das wunderbare Erlebnis von zwei Sprachen im Dialog. Nicht zwei Fremdsprachen, sondern zwei Eigensprachen, und als solche waren sie mir nicht mehr fremd und auch nicht mehr sehr verschieden. Es gibt nur Eine Sprache.

Das hätte man mir zur rechten Zeit beibringen sollen oder ich hätte zur rechten Zeit selbst darauf kommen sollen. Schon nur der Hinweis, dass Sprachen einfach sind, und dass jede Sprache nichts anderes ist als eine Form der menschlichen Sprache, nicht etwas Fremdes, sondern etwas sehr eigenes, das Menschliche. Ich habe Norwegisch und Irakisch als zwei Formen der einen Sprache erlebt. Verstanden habe ich wirklich nichts, aber ich habe gerade deshalb verstanden, dass hier zwei Menschen sprechen - annähernd dasselbe in zwei Formen.

Ich weiss, ich bin ein Schwärmer, und ich weiss, dass das, was ich mir wünschte, auch die mehrsprachige Schule nicht wird leisten können - aus dem einzigen Grund, weil sie sich in irgendeiner Form als nützlich darzustellen hat - etwa so wie die Schule in Poprad in Slowakien für Söhne und Töchter aus dem mittleren und höheren Management ihre Nützlichkeit hat.

Ich meine das nicht als Miesmacherei. Ein Anfang ist immerhin ein Anfang. Und immerhin heisst Ihr Projekt nicht "fremdsprachiger Unterricht" sondern "mehrsprachiger". Denn ich bin eigentlich fast sicher, dass die Kenntnisse von Fremdsprachen nationale Schranken nicht abbauen können - es gibt Rassisten, die mehrsprachig sind. Etwas anderes aber, davon bin ich überzeugt, kann Rassismus wirklich abbauen, die Bildung, die Lust an der Bildung.

Übrigens, das Wort "mies" - ein durch und durch deutsches Wort - (Miesmacherei), so sagt mir mein Duden, kommt aus dem Hebräischen. Das erinnert mich an Rosenzweig. Die Sprachen müssen früher einmal viel näher zusammengelebt haben - damals als die Menschen noch nicht so nahe zusammen wohnten. Wörter haben eine Herkunft. Das sollte Sprachreinigern zu denken eben, aber sie haben ohnehin nicht Sprache im Sinn, sondern Nationalismus. Und ich erinnere mich an jenen koptischen Wissenschaftler, den ich damals in Kairo traf. Er lebte mit Schreibverbot, mit Existenzverbot sozusagen. Er hatte das erste grosse Standardwerk geschrieben über die Etymologie der arabischen Sprache. Man hatte ihn dafür eingesperrt, man hatte ihn dafür gefoltert, denn, so sagten seine Gegner, die arabische Sprache hat keine Herkunft, sie kommt von Gott. So jedenfalls möchte ich das grossgeschriebene "Eine", es gibt nur Eine Sprache, nicht verstanden haben. Die Sprache kommt von den Menschen und sie verändert und bereichert sich durch Gebrauch, durch bewussten Gebrauch - als Beispiel die Sprachbemühungen der Feministinnen, die mir einleuchten - und durch fahrlässigen Gebrauch auch.

Gebt die Sprachen endlich frei zum Gebrauch, holt dieses verfluchte Sonntagsgeschirr aus den Schränken und lasst uns darauf tafeln - ohne Furcht, dass es dabei zu Brüchen gehen könnte. "Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen", hat Jean Paul 1807 in seiner Erziehlehre, der "Levana", geschrieben. Er - der Vielsprachige und Sprachgewandte - hat damit nicht etwa nur die deutsche Sprache gemeint - sondern Sprache an und für sich. Darf ich es wiederholen: "Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen." (4)

Das meinte ich zu Beginn: Bis jetzt waren Sie Fremdsprachenlehrerinnen, in der neuen Schule könnten Sie Sprachlehrer werden, denn, zum dritten Mal, Sprache lernen ist etwas Höheres als Sprachen lernen. Und es gibt nur Eine Sprache. Und wenn mich nun die fleissigen und die faulen unter Ihnen fragen würden, welche Sprachen sie dafür zu beherrschen hätten, dann ist die Antwort: Nur eine, nur die Eine. Und sollte Ihnen das zu wenig sein - Jakobson lässt grüssen.

Darf ich enden mit einer Bemerkung in eigener Sache. Es ist mir heute zum ersten Mal gelungen, über das Thema Sprache nachzudenken, ohne dabei dauernd über meine mangelnden Fremdsprachenkenntnisse zu lamentieren. Dafür bin ich mir dankbar, und ich danke auch meinem Freund Klaus Reichert, dem ich diesen Vortrag widmen möchte, denn er hat mir mit seiner kleinen Schrift über Rosenzweig und Buber "Zeit ist's" die Augen geöffnet für etwas ganz Einfaches, dass Sprache Sprache ist und nicht Fremdsprache.

Als ich vor 15 Jahren vor einem ähnlichen Kreis über meine "Erfahrungen beim Fremdsprachen lernen" (5) sprach, gefiel ich mir noch in einem grossen Lamento.

Trotzdem - lassen sie mich meinen Vortrag mit dem gleichen Lamento schliessen wie damals. Ich zitiere mich selbst und lese Ihnen den Schluss meiner Geschichte "Hugo" (6) vor:

"... doch seine Geschichte ist eine andere. Habe ich Ihnen schon erzählt, wie still und leise man mit ihm trinken konnte? Und ich will Ihnen auch nicht verschweigen, dass aus ihm selbstverständlich etwas geworden ist Denn das ist eine Geschichte, und in Geschichten wird man etwas.

Er könnte zum Beispiel nach seiner Lehre - vier Jahre -die Matura nachgeholt haben, in einem katholischen Internat, er könnte eine Leidenschaft für die uralten Bücher in Pergament entwickelt und dabei an seine Tante gedacht haben, die blinde. Er könnte Fussball-schiedsrichter geworden sein, ein Spiel zwischen Real Madrid und dem Hamburger Sportverein geleitet haben, für ein umstrittenes Tor in die Schlagzeilen gekommen sein, oder er könnte nach seiner Lehre nichts anderes mehr getan haben als Fremdsprachen gelernt, Albanisch und Kurdisch und Aramäisch, Haussa und Altslawisch, Gälisch und Katalanisch - Französisch nicht.

Doch seine Geschichte ist das nicht Es ist meine Geschichte, ich habe ihn überlebt, und ich sitze jetzt allein in der Kneipe und vermisse in der Stille und im Lärm seine Stille.

Was aus ihm geworden ist? Ein toter Mann, und ich stand an seinem Grab und dachte mir, da unten liegt es, sein Albanisch und sein Gälisch.

Da unten liegt sie, seine Stille, und vermodert."

Rede gehalten von Dr. h.c. Peter Bichsel anlässlich der Gründung der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz.

Bibliographie

  1. "Die Schrift" verdeutscht von Martin Buber, gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1992
  2. Klaus Reichert, "Zeit ist's. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext." Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1993, S.12
  3. "Scuola di Barbiana. Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin." Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1970, S.34
  4. Jean Paul, "Levana oder Erziehlehre" in J.P. Sämtliche Werke, Bd. 1/5, München: Carl Hanser Verlag, 1987 (ich verzichte auf eine Seitenangabe, weil ich Leser suche - unter Lehrern auch - für die ganze Levana von Jean Paul)
  5. "Didaktik und Methodik des Französischunterrichts vom 475. Schuljahr an", Bern: Informationsbulletin EDK 24/1980, S. 77-89 und Peter Bichsel, "Schul-meistereien", Hamburg: Sammlung Luchterhand, 1987, S.52ff.
  6. Peter Bichsel, "Zur Stadt Paris", Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1993, S.82f.